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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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Ball ist hart und rau. Und viel zu groß für meine Hän de. Hartes Plastik! Weiches Leder war mir lieber.
    In unserer Siedlung ist es still. Kein Mensch auf der Straße, kein Mensch im Garten. Wahrscheinlich alle im Schwimm bad oder am Baggersee.
    Deshalb hör ich sie sofort. Eine einsame Fahrradklingel in der Mittagshitze. Ich geh zum Gartenzaun.
    Auf der Straße nähert sich ein Fahrrad. Ein nagelneues schwar zes Mountainbike. Obendrauf ein Junge. Viel zu klein für dieses Riesenrad.
    «Hallo!», sagt er. Undeutlich. Wie immer schon.
    Dann lächelt er, zögert, fährt langsamer, als ob er anhalten will. Doch dann fährt er weiter.
    Ich bleibe stehen. Wie angewurzelt. Den rotbraunen Ball in der Hand. Und schaue ihm nach.
    In mir ein seltsames Gefühl. Ein Sehnen, das mich traurig macht.
    Ich lasse den harten Plastikball fallen.
    Die Fahrradklingel?
    Er hat gedreht, kommt zurück, steigt vom Rad. Mit diesem Blick, den ich vier Jahre lang gemieden habe.
    Mein Mund wird trocken, meine Hände feucht.
    Ich muss was sagen, irgendwas. Ich will, dass er bleibt. Er darf jetzt auf gar keinen Fall einfach wieder davonfahren!
    Eine Welle bricht über mir zusammen, ein Sog zieht mich hinunter, ein Strudel reißt mich weg...
    Meine Beine knicken ein. Ich lehne mich an die Hauswand.
    «Hast du Zeit?», sagt er. Und fängt mich mit seinem Lächeln ein.
    «Meine Mutter arbeitet am Nachmittag!»
    Damals haben wir angefangen, unsere Hütte zu bauen. In aller Heimlichkeit. Jeden Nachmittag.
    Geredet haben wir kaum. Auch ohne Worte haben wir uns verstanden. Mit den Augen. Mit einem Lächeln.
    Eine Woche, dann war die Hütte fertig.
    Es war schön, dieses Nebeneinander, verbunden durch das unsichtbare Band.
    Und doch war da mehr. Eine Spannung, diese ganz beson dere Spannung, wie damals auch. Nur fordernder. Jener Faden, straff gespannt, kurz vor dem Zerreißen ...
    Und dann?
    Wir können es nicht mehr beeinflussen. Wir können es nicht mehr verhindern. Irgendeine unsichtbare Kraft treibt uns aufeinander zu. Unaufhaltsam.
    Wir liegen auf den Holzbrettern unserer Hütte. Es ist dunkel. Licht fällt nur durch einige Ritzen.
    Es ist anders als damals in der Kindergartenhöhle. Irgendetwas ist anders. Und doch wieder nicht.
    Wir zögern nicht mehr. Wir können es nicht erwarten. Unsere Hände machen sich selbständig.
    Unser Denken und Tun löst sich vom Kopf, fegt die Verbotsschilder weg, will nur noch das Eine: den anderen!
    Vorsichtig, ihn und mich nicht verschrecken.
    Ein Streicheln über das Gesicht. Über Stirn und Wangen. Rücken und Bauch. Warme Hände, feucht vom Schweiß, unbeholfen, hastig ...
    Das Öffnen der Hose. Mit den umständlichen Knöpfen. Be rührungen, dann Stromstöße, die durch den ganzen Körper fahren, ihn erschüttern bis zur Explosion. Wir fallen zurück, matt und erschöpft und doch seltsam glücklich. Trotz der Angst, die da lauert.
    Eine Woche lang dauert dieses Glück. Dann das Ende. Die ses Mal für immer.
    Sie hat uns verfolgt. Wir haben sie nicht gehört. Die Stille des Waldes hat uns nicht gewarnt.
    Ganz plötzlich steht sie vor uns. Das Gesicht unbeweglich starr. Sagt kein Wort.
    Steffen steht sofort auf. Und geht. Mit ihr. Ohne sich umzudrehen. Und ohne ein Wort.
    Ich wollte sterben. Wusste bloß nicht, wie. Also blieb ich liegen. Starr vor Schrecken, vor Angst und Scham. Und vor Trauer.
    Weinen konnte ich nicht. Stunden habe ich auf den harten Brettern gelegen. So lange, bis mir eiskalt war. Zum Erfrieren kalt. Trotz 30 Grad im Schatten.
    Ich würde nie wieder jemandem in die Augen schauen kön nen.
    Nie wieder würde ich jemanden berühren können.
    Wie ein Verbrecher habe ich mich ins Haus geschlichen. Zum Glück war niemand da.
    Mein Vater im Laden. Laura in der Musikschule. Meine Mutter mal wieder irgendwo. Das passierte oft in der letzten Zeit. Damals wusste noch niemand den Grund. Ich hab mich ins Bett gelegt.
    Nie wieder!
    Nie wieder!
    Nie wieder!
    Ich hab diese Sätze in mein Hirn gehämmert. Immer wieder. Und geweint. Bis ich vor Erschöpfung eingeschlafen bin.
    Als ich dann aufwachte, war ich krank. Eine ganze Woche lang lag ich mit hohem Fieber im Bett.
    Dr. Weiß, unser Hausarzt, war ziemlich ratlos. Sommergrip pe? Sonnenstich? Infekt?
    Nach einer Woche war das Fieber gesunken. Trotzdem ging es mir schlecht. Ohne erkennbaren Grund, immer noch schwach und schwindelig.
    Ich hatte Angst vor dem Klingeln des Telefons. Aber Steffens Mutter rief niemals an.
    Meine alte Schule sah mich nie

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