Tuchfuehlung
ein Spiel ohne Sprache. Und wir konnten nicht mehr aufhören, es zu spielen. Es war wie ein Zwang. Wortlos, jeden Tag von neuem diese Suche nach der Höhle für uns. Nur für uns. Zwischen den Decken eine knisternde Spannung, wie ein Faden, straff gespannt, kurz vor dem Zerreißen. Unvergleichlich, dieses Gefühl. Wir hatten Glück, dass niemand sonst aus unserer Gruppe sich fürs Höhlenbauen interessierte.
Viel Zeit blieb uns nie. Jeden Tag nur eine halbe Stunde. Die Zeit zwischen dem Frühstück und der täglichen Märchenrunde. Immer dann, wenn wir gerade mit unserer Höh le fertig waren, kam Frau Bertram mit der großen Glocke und rief: «Schluss, Kinder! Aufräumen!»
Jeden Tag pünktlich um elf.
Das änderte sich erst, als Frau Bertram ging und Frau Dressel kam. Die Märchenrunde fiel aus. Die Zeit für das Freispiel verdoppelte sich. Bis zum täglichen Abschlusslied am Mittag. Nach dem Bau der Höhle nun ganz viel Zeit für uns.
Eine seltsame Stimmung. Eingehüllt in den Schutz der Bett laken und Decken. In mir dieses fiebrige Gefühl, diese ungewohnte Spannung. Ich habe nicht gewusst, was da mit mir passierte. Ich habe nur gewusst, dass dieses Gefühl niemals aufhören sollte. Ewigkeiten hätte ich so liegen können – neben ihm.
Es war ein besonders heißer Sommer, dieser letzte Kinder gartensommer.
Sandalen, kurze Hosen, T-Shirts und viel nackte Haut.
Ein Sommer für Planschbecken, kalte Duschen, für Spiele unter schattigen Bäumen. Kein Sommer für Höhlen ...
Trotzdem. Wir wollten und konnten nichts anderes tun.
Das Sonnenlicht kriecht durch das rote Laken und fällt auf sein Gesicht. Er hat die Augen geschlossen. Den weißen Plüsch hasen hat er vor den Bauch gepresst. So liegt er da. Neben mir. Unbeweglich. Wie tot.
Schläft er?
Ich weiß es nicht. Und ich muss es nicht wissen.
Ich habe fast aufgehört zu atmen.
Ich will ihn nicht stören. Ihn nicht aufwecken.
Ich will ihn anschauen. Sonst nichts. Und ich kann nichts anderes tun.
In diesem Sommer, im rötlichen Licht der Sonne unter dem Laken, sieht er gesünder aus als sonst. Sein Gesicht leicht gerötet von der Wärme. Nur auf seinen Lippen dieser bläu liche Schimmer.
Ich finde ihn schön.
Und es ist schön, ihn einfach nur anzuschauen.
Diese glatte Haut, die kleine Nase, das Grübchen am Kinn, die langen schwarzen Augenwimpern. Die Locken, die jetzt an der Stirn kleben ...
Die Tage fliegen davon mit diesem immer gleichen Spiel.
Frau Dressel schickt alle in den Garten. Wir dürfen bleiben. Sie glaubt, dass er schläft. Und sie glaubt, dass er diesen Schlaf braucht. Er ist schließlich nicht ganz gesund. Und ich darf bei ihm bleiben. Sozusagen als Schutz. Ja, Steffen ist anders. Und er darf anders sein ... Ich durfte es nicht.
Das, was Zeno Zimmermann getan hat, war unverzeihlich.
Wir liegen nebeneinander. Wie immer. Und doch ist irgend etwas anders als sonst. Steffen hat die Augen geschlossen. Seine Brille liegt neben ihm. Auch der weiße Plüschhase. Seine kleinen Hände gefaltet auf seinem Bauch.
Ich schau ihn an. Wie immer. Spüre die seltsame Spannung, den Faden, kurz vor dem Zerreißen. Dazu ein Kribbeln im Bauch und eine seltsame Unruhe.
Heute kann ich nicht einfach nur so liegen bleiben. Ich möchte ihn berühren, ihm ganz leicht über sein Gesicht strei chen. Ich werde diesen Gedanken nicht mehr los, und doch bleibe ich liegen.
Regungslos. Ich berühre ihn nicht.
Da öffnet er die Augen. Diese dunkelbraunen Augen. Und lächelt.
Es ist anders heute. Dieses Lächeln. Der Blick verschwommen. Trübe fast. Kein klarer Bergsee.
Und doch magischer als sonst. Irgendeine Kraft, die ich nicht kenne, zieht mich hinein. Immer tiefer hinein. Und ich weiß nicht, wohin. Dann plötzlich, ganz unvermittelt, legt er seine Arme um meinen Hals und zieht mich an sich. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals, seine Lippen an meiner Wange, fühle seine Hände an meinem Rücken. Lange liegen wir da. Einfach so.
Ich höre das Pochen unserer Herzen. Ein gleichmäßiges, pulsierendes Schlagen. Fordernd und stark.
Meine Hände gehorchen mir nicht. Ich kann sie nicht aufhalten. Sie machen sich selbständig.
Wandern unter sein T-Shirt, berühren seine Haut, die heiß und verschwitzt ist, wie meine Hände.
Seine Haut ist weich. So weich wie sein weißer Plüschhase. Ich kann nicht aufhören, ihn zu streicheln. Sein Atem geht jetzt schneller, fast wie ein leises Stöhnen. Meine rechte Hand wandert weiter.
Keine Knöpfe, kein
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