Tuchfuehlung
da. So wie immer.
Es gab Reibekuchen. Unser absolutes Lieblingsessen. Min des tens zehn für jeden von uns.
Wir saßen wieder zu dritt am Tisch. Ohne meinen Vater.
«Ich muss mit euch reden!», hat sie gesagt.
Sie bat uns, mit ihr zu gehen.
Aber wir wollten beide nicht.
Sie hat geweint. Und ich bin rausgegangen.
Am nächsten Tag schon hat sie uns verlassen. Mit nur einem Koffer in der Hand.
Ich habe ihr nie verziehen.
Ich habe angefangen, sie zu hassen.
Ich habe mir geschworen, niemals einen ihrer Briefe zu öffnen.
Laura hatte kaum Probleme mit ihrem Auszug. Laura hat sie regelmäßig besucht. Einmal im Monat hat sie sich in den Zug gesetzt. Und in den Ferien auch. Das hab ich ihr übel genommen. Aber für Laura blieb sie immer unsere Mutter.
Warum Eva nicht endlich nach Hause kommt?
Ich geh in den Garten. Niemand da. Auch hier ist noch alles so wie vor sechs Jahren. Als war ich nie weg gewesen. Der Teich mit den Goldfischen. Das Baumhaus in dem alten Apfelbaum. Die Schaukel. Sogar die Sandkiste. Nur wuchert in dem weißen Sand inzwischen das Unkraut. Familie Schmidt hat die Gartenarbeit immer noch nicht zu ihrer Frei zeitbeschäftigung erklärt. Es ist alles ein wenig verwildert. Wie früher. Nur der Rasen wurde regelmäßig gemäht. Ein mal im Monat mit der Sense. Das fand ich viel aufregender als die wöchentliche Rasur mit dem Elektromäher.
Ich setze mich auf die Schaukel.
Mal wieder einen Tag geschafft. Ohne Laura!
Das macht mich fast ein wenig froh.
Und nun?
19 Uhr. Ich muss zurück. Der Italiener wartet. Ob mein Vater und Frau Minnerup auch gewartet haben? Auf mich? Pünktlich kann ich jetzt nicht mehr sein ...
Ich werfe mich in die Pedale. Mein Vater könnte auf mich stolz sein. Fahrrad fahren hab ich schließlich doch noch gelernt.
Mozartstraße. Vor unserer Haustür treffe ich die junge Frau mit dem Kind. Sie grüßt freundlich. Das Kind lacht mich an. Auf dem untersten Klingelschild lese ich zwei neue Namen. M. Hanser und M. Bitter.
Ich fliege die 163 Stufen hoch. Zu spät! Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel.
Lieber Zeno,
wir sind schon vorgegangen. Komm bitte nach! Wir warten auf dich!
Gruß, Papa
Ich bin überwältigt! Kein Vorwurf? Nur diese freundliche Botschaft? Dabei bin ich eine halbe Stunde zu spät.
Ob das der Einfluss von Frau Minnerup ist?
Im «Bella» ist es voll wie immer. Aber mein Vater hat reserviert wie immer. Seit es mich gibt, ist das «Bella» unser Stammlokal. Unser Tisch ist der ganz hinten in der Ecke links. Und Stefano gibt es auch noch. Den schönen Stefano, meinen Lieblingskellner mit den langen schwarzen Haaren.
Ich habe ihn nie wirklich angeschaut. Mein Blick hat ihn immer nur leicht gestreift. Mehr hätte ich mir nicht erlaubt. Nein, nie wieder! Niemals wieder!
«Du wirst immer schöner! Zeno!»
Sein Blick springt mir entgegen. Die dunklen Augen treffen mich tief. Nein. Ich schau runter auf die roten Keramikflie sen.
Heute rettet mich mein Vater.
«Hallo! Schön, dass du gekommen bist!»
Er sieht anders aus als sonst.
Eine neue Brille, ja. Aber das kommt häufiger vor. Das ist es nicht.
Sein Gesicht ist glatter. Sein Blick freundlicher. Er lacht. Was selten vorkommt. Er wirkt entspannt. Ich glaube, er ist verliebt.
«Ihr kennt euch ja!», sagt er.
Na klar hab ich die Kontaktlinsenberaterin schon gesehen. Aber so richtig angeschaut hab ich sie noch nicht. Frauen haben mich eben noch nie besonders interessiert.
Ich bemühe mich, das nachzuholen. Ich werfe also einen freundlichen Blick auf Frau Minnerup.
Und stelle fest, sie gefällt mir nicht. Nein, sie ist überhaupt nicht unangenehm. Aber ich kann nichts mit ihr anfangen. Ich finde sie langweilig. Ja, obwohl ich sie überhaupt nicht kenne und sie noch keine Gelegenheit hatte, den Mund aufzumachen. Die Parfümsorte ist in Ordnung. Lagerfeld? Es passt jedenfalls. Sie ist klein, sportlich, kräftig, die Haare kurz und dunkelbraun. Sie trägt Kontaktlinsen. Jeans und Blazer. Wenig aufregend. Trotzdem bin ich erleichtert darüber, dass sie ein völlig anderer Typ ist als sie. Meine Mutter war groß und schlank, mit langer blonder Mähne. So wie ich. Sie war schön. Wunderschön.
Schluss jetzt mit diesem Nostalgiekram! Lieber schenke ich Beate Minnerup ein freundliches Lächeln.
Zieh es dann auch sofort wieder zurück, damit sie mich nicht gleich an ihren Busen drückt und mich adoptiert.
«Du kannst Beate zu mir sagen, wenn du willst!»
Beate also!
Auf dem Tisch
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