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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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nicht. Mein Vater also!
    Mir wird heiß. Schweiß bricht mir aus, mein T-Shirt wird feucht. Um diese Zeit hat mein Vater noch nie seinen heili gen Laden verlassen. Noch niemals in seinem Leben. Es muss was passiert sein. Es ist was passiert! Und ich weiß es genau! Die Rechnung! Die Telefonrechnung. Irgendwann musste der Tag kommen. Wie hab ich das bloß vergessen können!
    «Zeno?» Er steht in meinem Zimmer. Ein Blatt Papier in der Hand. Der Kontoauszug. Meine Kraft schwindet. Mir sitzt ein Kloß im Hals. Ich werde es nicht leugnen können. Auch im Lügen bin ich ein Versager.
    Er ist nicht nur wütend. In seinem Blick liegt Verachtung. Und mal wieder dieser unausgesprochene Satz: Womit hab ich diesen Sohn verdient? Er schweigt. Er schaut mich an. Mit diesem Blick, der mich prügelt. Dann schaut er auf den Boden, sieht das Papier, den Samt. Seine Augen streifen die Schaufensterpuppe. Er stöhnt auf.
    «Willst du uns ruinieren? Was hast du dir dabei gedacht? 3000 Mark! Weißt du, wie lange ich dafür arbeiten muss? Mit wem hast du so lange telefoniert?»
    Mit wem wohl, das kann er sich doch denken.
    «Ich will das Geld zurück!», sagt er. «Ein Jahr hast du Zeit, es zurückzuzahlen. Such dir einen Job. Und wenn du keinen findest, arbeitest du bei mir im Laden. Jeden Nachmittag von vier bis sechs, von Montag bis Freitag und am Samstagvormittag.»
    Er atmet schwer.
    «Und jetzt mach deine Hausaufgaben und lass die Spiele rei mit dem Stoff. Du bist schließlich siebzehn und nicht mehr im Kindergarten.»
    An der Tür dreht er sich um.
    «Und dann möchte ich deine Arbeiten sehen! Du weißt, ich meine es ernst. Solltest du auch nur eine einzige Fünf geschrieben haben, gibt ’ s nur noch eine Lösung. Und dieses Mal hältst du durch. Egal, was passiert. Dieses Mal kannst du nicht einfach zurückkommen, wenn es schwierig wird. Du musst endlich mal lernen durchzuhalten!»
    Die Tür fällt ins Schloss. Ich sitze auf dem grauen Teppichboden in meinem Zimmer und bin allein. Hab ich das alles nur geträumt? Nein! Natürlich nicht!
    Das Internat!
    Es ist mal wieder so weit! Die alten Bilder ... Die alten Ängs te!
    Nein. Ein Internat kann ich nicht aushalten. Ständig lauern den Versuchungen ausgesetzt sein. Entdeckung und Verachtung fürchten. Nein!
    Ich räume meine Träume zurück in den Schrank, schlürfe einen Hildegardtrunk, damit ich nicht abstürze und mir nicht doch noch die tödliche Mischung reinziehe.
    3000 Mark! Wo krieg ich die her?
    Ich muss raus.
    In dieser Wohnung hält mich nichts mehr.
    Obwohl sie warm ist. Gemütlich und warm.
    Aus Lauras Schreibtischschublade nehme ich die Eurocard. Für alle Fälle ...
    Ich stürze auf die Straße. In den Regen, in die Kälte, tauche ein in die Dunkelheit, laufe o rientierungslos die Straßen ent lang, weiter, immer weiter, ohne Ziel. Den Wasserpfützen weiche ich nicht aus. Noch sind meine Füße trocken. Irgendwann steh ich vor dem Hauptbahnhof. Ich flüchte in den Schutz der Vorhalle. Hier ist es warm, hier ist es hell. Hier bin ich nicht allein. Für einen Moment fühl ich mich gebor gen. In meine Nase dringt ein verführerischer Duft. Mein Lieblingsessen. Mein Geburtstagsessen. Reibekuchen! Ich hab sie nie wieder gegessen. Sie waren nur noch Erinnerung. Viel zu viel Erinnerung. Erinnerung an sie! Und die wollte ich nicht. Die wollte ich für immer verbannen. Deshalb habe ich jahrelang einen Bogen um Imbissstände wie diese ge macht.
    Ich muss nicht lange warten. Dann liegen drei knusprige, fettige Teile vor mir auf dem Pappteller. Mit Apfelmus. Ich reiße mit meinen Fingern mundgerechte Fetzen ab. Meine Finger sind ölig verschmiert, die knusprigen Randstücke reißen meinen Gaumen auf, und dann liegen sie wie schwere Bleigewichte in meinem Magen. Trotzdem, sie haben mir gut getan.
     
    Wo verbringe ich die Nacht? Ich will nicht mehr zurück. Aber wohin?
    Zu Eva? Ja, wenn ihr die Revolution nicht so schrecklich wichtig wäre... Zu Laura? Wenn ich die tausend Mark für den Flug hätte, dann ja! Dann würde ich den nächsten Zug zum Flughafen nehmen.
    Ziellos irre ich durch die Bahnhofshalle. Irgendwann lande ich bei den Zeitschriften. Ganz zufällig stehe ich jetzt davor. Ich spüre, dass ich rot werde. Ich habe gewusst, dass es solche Blätter gibt, klar. Aber ich habe noch nie eins in der Hand gehabt. «Männer aktuell» und «magnus – das schwule Magazin».
    Wenn mich jetzt jemand sieht! Jemand aus der 9 f zum Beispiel! Ich muss weg aus dieser Ecke! Aber es geht

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