Tuchfuehlung
nicht. Es ist so voll in diesen engen Gängen, als hätte sich die halbe Stadt hier verabredet. Rechts und links neben mir jetzt vor allem junge Männer. Zwischen zwanzig und dreißig. Ähn liches Outfit. Kurze Haare, gepflegt, braun gebrannt. Jeans, Lederjacke, Kaschmirschal. Ohrring im rechten Ohr. Einige blättern nur, einige greifen ohne Zögern zu und gehen zur Kasse. Und ich? Ich steh bloß rum. Will weg, will doch nicht weg. Aber ich trau mich nicht, ein Heft zu kaufen. Und noch viel weniger trau ich mich, einfach eins zu nehmen und durchzublättern. Aber irgendwas muss ich jetzt tun. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben. Schon spür ich Blicke. Taxierende, abwägende, interessierte Blicke. Mir wird warm. Ich öffne den Reißverschluss meiner Lederjacke. Da spür ich jemanden hinter mir. Nah. Viel zu nah. Ich spüre heißen Atem an meinem Hals, spüre etwas Hartes an meinem Po. Ich zucke zusammen ... Reiße mich los... Renne raus, ohne mich umzudrehen.
Dann steh ich auf dem Bahnsteig. Verschwitzt und atemlos. Vor mir die S-Bahn zum Flughafen. Ich steig ein. Die Bahn setzt sich in Bewegung. Und ich habe keine Fahrkarte gekauft. 70 Mark, wenn sie mich jetzt erwischen! Aber das ist auch egal, bei 3000 Mark Schulden, die ich schon hab ...
Ich finde einen freien Platz. Lehne mich zurück. Schließe die Augen, damit ich die zerschlitzten und besprühten Bänke nicht sehen muss. So viel Trostlosigkeit ertrag ich heute nicht. Ich versuche ruhig zu atmen. Ich sortiere meine Gedanken.
Was ist passiert? Und was hab ich jetzt vor? Es ist ziemlich schwachsinnig. Es ist lächerlich und blauäugig. Ich hab keinen Pass. Ich hab kein Geld. Ich hab nur Lauras Eurocard. Ich weiß zwar ihre Geheimnummer, aber ich weiß nicht, ob sich überhaupt eine einzige Mark auf ihrem Konto befindet.
Zeno Zimmermann! So geht ’ s nicht! Augen auf! Energien ins Hirn! Überleg dir was!
Was? Was? Was?
Ich seh überhaupt kein Ufer mehr. Nirgendwo.
Fang bloß nicht an zu heulen, Zeno Zimmermann. Du bist schließlich nicht mehr drei. Mach dich nicht lächerlich!
«Jemand zugestiegen?»
Ich schließe die Augen.
Durchhalten, Zeno Zimmermann!
Ich halte die Luft an, zähle bis hundert, der Kontrolleur ist vorbeigegangen.
Die Bahn hält. Fünfzehn Minuten bin ich schon unterwegs. Und nun?
Entscheide dich, Zeno Zimmermann. New York ist heute nicht mehr drin!
Was bleibt, ist die Hütte im Wald.
Lass das Selbstmitleid! Es gibt immer eine Lösung! Auch für dich!
Und welche?
Deine Mutter, zum Beispiel. Stell dir vor, Zeno Zimmermann, du hast eine Mutter!
Nein! Meine Mutter hat mich verlassen!
Es gibt sie! Begreif das doch. Du kannst zu ihr fahren. Jeder zeit. Also?
Ich hab ihre Adresse nicht eingesteckt!
Dann fahr zurück und hol sie.
Nein, es geht nicht.
Und warum nicht?
Weil ich ... Weil ich mich, verdammt, hör auf jetzt!
«Magst du?»
Eine schwarze Hand hält mir einen Kaugummi vor die Nase. Ich zucke zusammen. Ich greife zu, ohne zu überlegen.
«Danke», sage ich.
Das schwarze Gesicht lächelt. Ich bin etwas verwirrt. Mir gegenüber sitzt ein Junge. Neben ihm ein kleines Mädchen. Er ist noch jung, dieser Junge. Höchstens zwölf, aber ziem lich groß. Fast so groß wie ich. Er hat eine glatte schwarze Haut, ganz ebenmäßige Gesichtszüge, makellos. Kleine Ohren, einen kurz geschorenen Kopf. Er schaut mich an und lächelt. Seine Augen sind ungewöhnlich groß und schwarz. Seine Lippen ziemlich dick, nicht rot, eher braun. Seine Zähne schneeweiß und gleichmäßig schön. Große Hände hat er, mit langen, schlanken Fingern. Die Innenflächen hell im Vergleich zu seiner sonst so schwarzen Haut. Immer noch lächelt er mich an. Sein Gesicht ist kindlich und offen, wie ein aufgeschlagenes Buch. Mir wird ganz warm. Ich muss weggucken. Wie gut, dass ich den Kaugummi hab, der mich jetzt beschäftigt. Erst nach einer Weile wage ich einen neuen Blick. Er durchsucht seine Taschen. Dem kleinen Mädchen läuft die Nase. Ich greife in die Seitentasche meiner Leder jacke.
«Hier!», sage ich und reiche ihm eine Packung Papiertaschentücher.
« Oh! Danke!», sagt er. Und schickt mir dieses Lächeln, das mich ganz benommen macht. Unsere Hände berühren sich ... für einen kurzen Moment ... Weich und glatt ist seine Haut... so weich und glatt wie der schwarze Samt, nur schöner noch. Er putzt dem kleinen Mädchen die Nase. Auch sie lächelt mir zu. Dann redet sie mit ihm. In einer Sprache, die ich nicht verstehe, die ich niemals
Weitere Kostenlose Bücher