Tuchfuehlung
stehe.
«In der nächsten Zeit findest du mich am Bahnhof! Ciao!»
Ich bin froh, als ich endlich wieder oben bin. 163 Stufen. Dach geschoss.
Die Wohnung ist still und leer, wie immer. Nein. Wie meistens. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Bin bei Beate! Wenn du willst, komm nach!
Er weiß genau, dass ich das niemals tun würde.
Heute bin ich froh, dass ich allein bin. Zu viel Alkohol? Meine Hände zittern ein wenig. In mir ein leichtes, schwindeliges Gefühl. Die letzten Nähte müssen gerade werden. Ich lege die Sting-Kassette in den Recorder. Heute brauch ich etwas Sanftes, Ruhiges. Etwas, was mein Nachdenken nicht stört.
When the angels fall
Shadows on the wall
In the thunder ’ s call
Something haunts us all...
Ja, irgendwas verfolgt uns alle. Ich muss mit meinen Verfolgern leben lernen. Die Engel sind gefallen, Zeno Zimmermann, stell dich den Schatten an der Wand!
Um Mitternacht hab ich es geschafft. Sophias Kleid liegt vor mir. Dunkelblau und weiß. Ob sie sich freut? Der Kuchen ist noch warm. Ein Schokoladenkuchen mit zwei rosaroten Kerzen aus Marzipan.
Morgen ist der 1. Dezember, und das wird ein guter Tag.
Dem Hahn geb ich den Befehl, um 9 Uhr zu krähen.
«Guten Morgen! Guten Morgen!»
Ich dreh dem Hahn die Gurgel ab. Heute muss ich nicht überlegen, ob ich aufstehen will oder nicht. Unter der Dusche fallen mir Fetzen meines Traums ein. Wie neulich schon, ein endloser Fall in die Tiefe, in die Dunkelheit. Stimmen, bedrohlich nah – und ihr Lächeln – ich schüttle den Traum ab, wie die Wassertropfen von meinem Körper. Die Gespenster haben mich nicht wirklich packen können. Jetzt jag ich sie vor die Tür.
Ich hab heute noch viel zu erledigen.
Die vierundzwanzig Päckchen für den Adventskalender. Die sind noch nicht gepackt. Nur die kleinen roten Beutel sind genäht. Keine Ahnung, womit ich sie füllen kann.
Es ist Mittwoch, ein ganz normaler Mittwoch, der 1. Dezem ber. Und es ist so voll, als wäre morgen schon der Heili ge Abend. In der Fußgängerzone muss ich meine Ellbogen einsetzen, um weiterzukommen. Die Menschen schieben sich im Zeitlupentempo vorwärts. Besonders glücklich sehen sie nicht aus.
Endlich die Spielzeugabteilung. Eine ganze Etage! Mir wird schwindelig. Puppen, Teddybären, Fahrräder, Rollschu he, Spiele, Eisenbahnen, Autos, Bücher, Bauklötze. Ich schaue mit Sophias Augen und der vorgegebenen Beutelgröße. An meinem Arm baumelt der Einkaufskorb. Ein roter Luftballon, eine Trillerpfeife, eine Wasserpistole, Seifenblasen, einen aufziehbaren Frosch für die Badewanne ... Es feh len immer noch 19 Teile. Langsam verzweifle ich. Da seh ich einen Sack mit Holztieren. Ein ganzer Zoo. Löwe, Tiger, Affe, Jaguar, Leopard, Pferd, Kuh, Kamel, Eisbär, Braunbär, Nashorn, Nilpferd, Lama, Pandabär, Seehund, Krokodil, Ameisenbär, Giraffe, Elefant! Das passt. Zur Kasse! 29,50 Mark! Ich bin zufrieden!
Ich weiß nicht, warum ich ’ s tue.
Es war nicht eingeplant.
Ich schlage den Weg zum Hauptbahnhof ein.
Ja, ich möchte ihn sehen.
Ja, vielleicht möchte ich sogar ...
Ich zähle mein Geld. Es würde reichen.
Mein Herz klopft. Ich versuche es mit drei knusprigen, fet ti gen Reibekuchen zu beruhigen. Ohne Erfolg. Meine Augen wandern umher. Keine weißen Jeans, kein kariertes Hemd. Kein Leon! Ich bin enttäuscht. Warum bloß ? Warum will ich ihn denn unbedingt sehen? Pass auf, Zeno! Pass endlich auf dich auf!
Ich fege alle Gedanken weg, alle Ängste, alle Schamgefüh le. Ich gehe zielstrebig auf diese ganz bestimmte Ecke zu. Greife ohne zu zögern zwei Magazine. Die ganz speziellen, ganz besonderen. Diesmal keine Modemagazine der Haute Couture. Ich geh zur Kasse und zahle 22,60 Mark. Mein Herz schlägt ruhig, meine Hände zittern nicht. Ich werde nicht rot. Ich will alles wissen. Alles. Und ich werde es wissen. Heute noch! Spätestens heute Abend.
Ich pack sie in meinen Kleiderschrank – in die hinterste Ecke – und streife dabei meine Leinenhose. Ich streiche über den Stoff. Weich und etwas rau. Ich nehme mir die schwarze Hose und das schwarze Hemd aus dem Schrank. Das ist der Tag. Heute wird es passen. Die Leute da unten werden sich nicht wundern, glaube ich.
Ich hänge die Päckchen an die goldenen Ringe. Was fehlt, sind die Zahlen. Aber Sophia kann ja sowieso noch nicht lesen. Das Kleid packe ich in rosafarbenes Seidenpapier. Alles in einen Korb. Fertig! Ich freu mich mehr als über meinen eigenen Geburtstag.
Früher, als ich klein
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