Tuchfuehlung
war, als ich so alt war wie Sophia und auch später noch, da waren meine Geburtstage wunderschön, bis sie gegangen ist. Ich betrachte den Schokoladenkuchen im Korb. Jedes Jahr hat sie ihn für mich gebacken. Jedes Jahr eine Kerze mehr. Zehn Kerzen. Der letzte gemeinsame Geburtstag.
Heute steh ich länger vor dem Spiegel als sonst. Viel, viel länger. Und ich betrachte mich genau. Jeden Zentimeter mei nes Körpers, meiner Haut. Ich schau in den Spiegel – in mein Gesicht. Blaue Augen, ziemlich groß, ein ernster Blick, hohe Stirn, schmales, ovales Gesicht, die Nase nicht besonders groß, der Mund schon eher, die Zähne gerade und weiß, ein zufriedenes Lächeln. Heute lasse ich die Haare offen. Ich fin de mich schön ...
Dann dusche ich, länger als sonst, seife mich ein mit «Obsession» von Beate Minnerup, sauge den Duft ein, lass meine Hände immer wieder über meine Haut gleiten, fühle meinen Körper. Und ich fühle mich wohl in ihm. Ich trage Bodymilk auf, versprühe großzügig Parfüm, hülle mich in edles Leinen. Dann die Haare gebürstet, und die schöne Frau aus der Jil-Sander-Werbung lächelt mich an. Den Lippenstift erspar ich ihr heute. Sie ist schön genug.
Ich häng mir den Korb an den Arm, wie Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter.
Das Telefon.
Alex?
Immer, wenn es klingelt, denk ich an Alex oder an Tabea Rosenkranz. Jedes Mal klopft mein Herz, jedes Mal bricht mir der Schweiß aus, vorsichtig nehme ich den Hörer ab, halte ihn nicht sehr nah an mein Ohr. Ich melde mich nie, warte ab...
«Hallo!», sagt Eva. «Bist du ’ s, Zeno?»
Mein Herz klopft bedrohlich. Mit einem Schlag ist die Schu le wieder da. Der unterschlagene Brief. Ich kann nicht so tun, als hätte sich die Schule in Luft aufgelöst. Irgend wann holt sie mich ein. Nächste Woche ist meine Frist abge lau fen. Eine neue Entschuldigung, oder ich muss wieder hin.
«Ich hätte dich besucht, Zeno, aber unser Projekt, du weißt schon. Es läuft schlecht. Wir können den Golfplatz nicht ver hin dern. Die Bauern kippen alle um. Einer nach dem ande ren. Das Geld lockt sie. Ganz einfach.»
Sie schweigt. Ich sage nichts dazu. Mich interessieren ihre Golfplätze heute nicht.
«Wann kommst du wieder?»
«Bald!»
«Übrigens, Alex ist weg. Seit drei Wochen schon! Ich glau be, den sehen wir nicht wieder. Seitdem ist es seltsam ruhig in der Klasse. Tom und Jannik haben ihre bunten Haare ab geschnitten. Sie haben sich ein neues Outfit zugelegt. Chiem see-Pullis und Diesel-Jeans. Wenn was ist, Zeno, denk dran, ich bin da. Auch wenn ich zufällig mal unterwegs bin.»
Ich brauch sie nicht.
Ich werde sie nie brauchen. Ich werde niemals wieder jemanden brauchen. Ich, Zeno Zimmermann, komm in Zukunft allein klar!
Rotkäppchen steigt die 163 Stufen durch den Wald, den Wolf trifft es nicht. Rotkäppchen klingelt. Sophia öffnet die Tür. Daneben Vera, Markus, Michael. Ich weiß immer noch nicht, wer der Vater ist. Und ich weiß immer noch nicht, wer eigentlich in dieser Wohnung lebt. Alle vier? Und wer mit wem?
« Oh!», sagt Sophia.
«Oh!», sagen Vera, Markus, Michael.
«Bist du ’ s wirklich, Zeno?»
Vera umarmt mich. Das hat sie noch nie getan. Markus und Michael schauen sich an. Ihr Blick wirkt leicht irritiert. Dann ziehen mich die vier in den Flur, und ich schwimme in einem Meer von Luftballons in die Küche hinein. Dort ist jeder Platz besetzt. Ich kenne niemanden. Aber Vera stellt mir Sophias Gäste vor. Omas und Opas, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Zwölf Leute sitzen am Küchentisch, zehn weitere im Wohnzimmer. Die sonst so aufgeräumte, gepfleg te Wohnung ist ein einziges Chaos. Überall liegt was herum, in der Küche stapelt sich Geschirr. Es ist so laut wie auf dem Weihnachtsmarkt. Aber warm und gemütlich.
Sophia weicht nicht von meiner Seite. Sie zerzaust mir die Haare, dreht sich in ihrem neuen Matrosenkleid, lacht und freut sich. Die Omas und Opas haben keine Chance mehr. Sophia ist die Hauptperson, und ich bin der Star. Kuchen, Kleid und Kalender werden bestaunt, immer wieder höre ich «ein Phänomen, der Junge», oder «total begabt». Egal, wo ich gerade bin, sie reden über mich. Sie schenken mir bewun dern de Blicke. Ich weiß nicht, wohin. Natürlich freu ich mich darüber. Aber es ist mir zu viel.
«Und deine Klamotten!», sagt Vera. «Hast du die etwa auch genäht?»
Ich schlucke die Freude mit Sekt hinunter, ein Glas nach dem anderen. Sogar die Sorte passt heute. Rotkäppchen. Heute passt einfach
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