Tuchfuehlung
gelbe Sofa verwaist. Beate Minnerup? Ich weiß nicht, wo...
«In die Disco!»
«Nimm den ersten Nachtexpress! Und sei bitte pünktlich!»
«So früh? Da geht ’ s doch erst richtig los!»
Aber er ist natürlich der bessere Geschäftsmann. Er lässt nicht mit sich handeln.
Nein, nicht mal der zweite Nachtexpress ist drin.
Um neun trinke ich ein Glas Rotwein. Um fünf nach neun ein zweites. Danach ist mir schwindelig im Kopf und flau im Magen, aber die innere Unruhe bin ich nicht los. Ich geh auf den Balkon, sauge die kalte Luft ein, zünde mir eine Ziga rette an. Heute ist jeder Versuch wirkungslos.
Also mach ich mich in diesem Zustand auf den Weg. Fünf Stationen mit der U-Bahn. Ein paar hundert Meter durch dunk le Straßen, dann das verlassene Fabrikgelände. Meine Un ruhe wächst. In mir dieses aufgedrehte Gefühl. So müss ten sich Sophias Schwimmtiere fühlen, wenn sie fühlen könn ten. Bloß ist das Schicksal gnädiger mit ihnen. Irgendwann ist ihre Zeit abgelaufen. Und die totale Ruhe kehrt ein. Darauf warte ich vergebens. Die letzten Meter. Eine Ziga rette, an der ich mich festhalte ... Ich sehe die ersten Gestalten, die sich dem Eingang der Fabrikhalle nähern. Ich zieh mir das Palästinensertuch bis zur Nasenspitze.
An der Kasse kein Andrang. Es ist einfach noch zu früh. Ich bin froh, dass ich niemanden treffe und dass ich in den Schutz der Dunkelheit eintauchen kann. Zunächst ein Gang durch die alten Kellergewölbe, dann treppauf, treppab, bis in die große Halle. Da, wo noch vor drei Jahren gewaltige Druck maschinen die Tageszeitung dieser Stadt gedruckt haben, zucken grelle Lichtstrahlen von der Decke, dröhnen Hardcore, Acid und Trance mit 200 Beats aus den Lautspre cher boxen, zappeln Männer mit weißen Handschuhen und Trillerpfeifen auf der Tanzfläche. Ich bin froh, dass es dunkel ist, dass ich unentdeckt bleiben kann. Vorläufig jedenfalls fühle ich mich sicher.
Ich lasse mich in einer der unzähligen Bars nieder, trinke ein Glas Rotwein, zünde eine Zigarette an und versuche, mög lichst unauffällig die Welt zu beobachten, in die ich eingetaucht bin. Zunächst wirkt alles wie sonst auch. Discoatmosphäre eben. Laut und dunkel, mit zuckenden Lichtstrahlen. Nur wenn ich ganz genau hinschaue, dann erkenne ich, dass heute wirklich keine einzige Frau hier ist. Auch wenn viele so aussehen wie Frauen. Höchst ungewöhnliche Figuren. Frauen würden niemals so herumlaufen. Mit Kleidern, Röcken, Perücken, dick angemalt, mit Ketten, Armbändern und üppigem Gehänge an den Ohren. Nein, meine alten Sehnsüchte rühren sich nicht. Heute fühl ich mich in meinen Jeans sicher und geschützt. Die meisten Männer sind älter als ich. Viel, viel älter. An der Bar, mir schräg gegen über, lehnen auffällig viele über 50.
Ich bin nicht der Einzige, der möglichst unauffällig beobachtet. Es gibt erstaunlich viele, die allein um die Tanzfläche schleichen, die allein an der Bar stehen und die so aussehen, als würden sie jemanden suchen. Wofür? Für eine Nacht, für den schnellen Sex auf dem dunklen Fabrikgelände, in den endlosen Kellergängen? Ich weiche den Blicken aus. Sie sind unmissverständlich. Fragend, fordernd. Offensichtlich funktioniert die Anmache so.
Hier und da in den Ecken auch Paare, die sich umarmen, die sich küssen, die irgendwann verschwinden.
Der Mann neben mir rückt näher. Mitte 40, kariertes Hemd über unübersehbarem Bierbauch, Haare ungepflegt und fet tig. Tut mir Leid, aber wirklich nicht mein Typ! Trotzdem, er findet sich anscheinend unwiderstehlich, rückt näher, immer näher ...
«Darf ich dich einladen?»
Die dicken Hände greifen zur Bierflasche. Schlachterhände.
«Nein, danke!», sage ich und tauche unter.
Weg, bloß weg! Ich laufe ziellos durch Gänge und Flure, suche dann doch zielstrebig die weißen Jeans, die schwarzen Schuhe ... Muss langsam aufpassen, dass mich die Einsamkeits kralle nicht packt.
Trotz all der Männer, die mich beobachten, die mich verfolgen, die mich ansprechen. Irgendwo in einer Ecke ziemliches Gedränge vor einem Stand. Ich geh unauffällig näher ... ein Tisch mit Kondomen, Gummihandschuhen, Gleitmitteln. Mehr seh ich nicht, will ich nicht sehen. Mich packt das Grauen. Aids. Daran hab ich noch nicht wirklich ernsthaft gedacht. Kann es passiert sein?
Mir ist schlecht. Ich krieg keine Luft mehr. Ich such das Klo. Egal, was mich da erwartet. Ich seh nichts, will nichts sehen, ich höre nur, wie jemand sich gerade die Seele aus
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