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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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Autorität.
    Vom Englischtest befreit sie mich nicht. Sie verlangt, dass ich Fragen beantworte, die ich gar nicht beantworten kann. Schließlich fehlen mir acht Englischstunden. Aber das ist für Tabea Rosenkranz überhaupt kein Thema.
    Für mich schon. Ich gebe ihr den Zettel zurück, so wie sie ihn mir gegeben hat. Sie könnte mir jetzt dankbar sein, weil ich ihr die Mühe der Korrektur erspart habe. Null Punkte. Ungenügend. Fertig.
    Aber statt «danke» zu sagen, sagt sie: «Das ist Selbstzerstörung, Zeno Zimmermann! Irgendwas hättest du bestimmt gewusst! Du lernst diese Sprache schließlich nicht erst seit gestern!»
    Manchmal könnte ich sie umbringen, die blöde Kuh, die Rosenkranz! Obwohl sie sonst echt in Ordnung ist.
    Im Berufsinformationszentrum schaff ich zwar ein paar Punkte mehr. Aber doch so wenig, dass mich keine Firma zum Vorstellungsgespräch einladen würde, sagt Frau Wiese, die Berufsberaterin. Meine Rechtschreibung ist fehlerhaft, mein mathematisches Wissen hat gerade mal Grundschulniveau. Meine Allgemeinbildung scheitert schon bei Frage eins: Wann war die Französische Revolution? Und meine Kon zentration reicht nicht aus, um alle Zahlenreihen zu vervollständigen.
    Es tröstet mich nicht, dass ich nicht der einzige Idiot in die ser Klasse bin. Nicht mal die Hälfte der 9 f würde zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden.
    Dann eben keine Lehrstelle! Es geht auch ohne! Solange ich eine Nähmaschine habe, kann mir nichts passieren. Irgend welche Jobs finde ich immer. Nicht aufgeben, Zeno! Denk an die amerikanische Karriere! Vom Tellerwäscher zum Millio när! Genau!
     
    «Na, wie war ’ s?», fragt mein Vater zu Hause.
    «Gut!», sage ich.
    «Ich hab eine Nachhilfe für dich besorgt. Frau Dr. Augustin. Oberstudienrätin. Sie kommt dreimal die Woche!»
    Er guckt nicht unfreundlich. Das nicht. Aber besonders glücklich sieht er momentan nicht aus. Stress mit Beate Min nerup vielleicht?
    «Und ein Internat hab ich auch. Stift Birkenau im Schwarz wald. Eine alte Zisterzienserabtei. Abgelegen, in der Natur. Kleine Gruppen. Viele Sportmöglichkeiten. Mehr kann ich dir nicht bieten. Am 8. Januar fahr ich dich hin!»
    «Schön!», sage ich. Und schicke ihm ein Lächeln. «Da kann ich im Winter Ski fahren. Find ich echt gut!»
    Nein, von ihm kommt kein Lächeln zurück. Er glaubt mir so wenig wie ich mir.
    Diese Abtei wird mich niemals sehen. Das weiß ich sicher.
    Die Woche schleppt sich dahin mit Schule und Hausaufgaben. Zwischendurch Sophia. Aber ich kann mich nicht so richtig auf sie konzentrieren. Mich plagen unregelmäßige Ver ben, Gleichungen mit viel zu vielen Unbekannten, Kurzgeschichten von Hemingway, das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Photosynthese. Alles Fakten, für die in meinem Hirn kein Platz ist. Noch ein paar Wochen, und es wird platzen. Frau Dr. Augustin sieht das völlig anders.
    «Das ist reine Abwehr, Zeno Zimmermann, sonst nichts! Du nutzt nicht mal zehn Prozent deiner Hirnsubstanz. Du willst nicht. Das ist alles! Und solange du nicht willst, kann ich dir auch nicht helfen!»
    Vielleicht hat sie sogar Recht. Ich will nicht. Ich will was anderes. Etwas, was ich kann. Mit meinen Händen. Oder mit der Nähmaschine. Vor mir, am Plastikkörper der Schaufensterpuppe, hängen immerhin zwei selbst verdiente blaue Schei ne. Die Angst vor dem Hungertod plagt mich jedenfalls noch nicht.
     
    Dann endlich. Der Samstagabend. Endlich kann ich mein Hirn auslüften, kann mein Körper sich austoben. Endlich sehe ich ihn wieder! Den Hauptbahnhof habe ich die ganze Woche lang gemieden. Ich habe versucht, nicht an ihn zu denken, aber sein schmales Gesicht hat mich verfolgt.
    Ich bin kein Discogänger. Kein Discofan, kein Discofreak. Laura hat mich ein paar Mal mit ihrer Clique mitgenommen. Es war ganz nett, aber ich muss da nicht jedes Wochenende hin, wie die meisten in meiner Klasse.
    Heute Disco für Schwule. Eine ganze Halle voll Schwuler. Nicht nur ein, zwei, nein, gleich Hunderte ... Mir wird fast schwindelig bei dieser Vorstellung. Eigentlich kann ich es mir auch nicht vorstellen. Wie sind sie? So wie Leon, so wie ich? Alt oder jung? So wie die Männer in den Illustrierten? Gay Cannibals auch? Mir wird total heiß. Was zieh ich an? Keine Ahnung.
    Ich bleibe bei meiner Einheitsbekleidung. Blaue Jeans, weißes T-Shirt, darüber Irlands Wolle. Fertig.
    «Wo gehst du hin?»
    Mein Vater ist ungewöhnlich oft am Abend zu Hause. Meis tens sitzt er in seinem Zimmer. Das Wohnzimmer ist leer. Das

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