Tür ins Dunkel
ich hasse sie!«
»Haßt du deinen Vater?«
»Ja!«
»Weil er dich zwingt, die Tür zum Dezember zu öffnen und über die Schwelle zu treten?«
»Ich hasse es!« kreischte das Mädchen zornig und verzweifelt.
»Was passiert, wenn du über diese Türschwelle zum Dezember trittst?«
Melanie begann zu würgen. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und konnte deshalb nichts erbrechen, aber sie wurde von so starken Krämpfen geschüttelt, daß Dan sie kaum festhalten konnte. Laura hielt das Gesicht ihrer Tochter weiter mit beiden Händen umfangen, aber jetzt streichelte sie es mit den Fingerspitzen, versuchte die Falten zu glätten, während sie sanft und zärtlich auf das Kind einredete. Schließlich erschlafften Melanies angespannte Muskeln, und Dan ließ sie los, während Laura sie fest in die Arme nahm. Das Mädchen sträubte sich nicht gegen die Umarmung. Mit einer verzweifelten Stimme, die Dan zu Herzen ging, murmelte es: »Ich hasse sie... ich hasse sie alle,.. Daddy... und die anderen...«
»Ich weiß«, sagte Laura beruhigend.
»Sie tun mir weh... sie tun mir so schrecklich weh... ich hasse sie...«
»Ich weiß.«
»Aber... aber am meisten...«
Laura setzte sich auf den Boden und zog das Mädchen auf ihren Schoß. »Ja, Liebling? Was haßt du am meisten?«
»Mich.«
»Nein, nein.«
»Doch«, beharrte Melanie. »Mich. Ich hasse mich... ich hasse mich'.«
»Warum, Liebling?«
»Wegen... wegen dem, was ich mache«, schluchzte die Kleine.
»Was machst du denn?«
»Ich trete.,, über die... Türschwelle...«
»Und was passiert dann?«
»Ich.,. gehe... durch... die Tür,..«
»Und was machst du auf der anderen Seite der Tür, was siehst du dort, was findest du dort?« Das Mädchen schwieg. »Baby?« Keine Reaktion.
»Sag es mir, Melanie.«
Nichts.
Dan beugte sich hinab und betrachtete das Kind mit großer Aufmerksamkeit. Er erschrak, denn Melanies starrer, glasiger Blick hatte sich noch erheblich verschlimmert. Ihre Augen hatten kaum noch etwas von menschlichen Augen an sich. Dan fühlte sich an zwei ovale Fenster erinnert, durch Hie man auf eine unvorstellbare Leere hinausblickte, eine kalte, trostlose Leere, so als flöge man durch das gewaltige Universum.
Laura hielt ihre Tochter umschlungen und weinte lautlos vor sich hin. Sie wiegte das Kind in ihren Armen, und ihre Lippen zitterten, und Tränen rollten über ihre Wan gen. Ihr stilles Leid griff Dan ans Herz, und er hätte sie am liebsten in die Arme genommen und liebevoll getröstet, so wie sie es bei Melanie machte, aber er durfte sich nur erlauben, ihr sanft eine Hand auf die Schulter zu legen. Etwas später, als Lauras Tränen getrocknet waren, sagte Dan: »Melanie sagt, daß sie sich haßt, wegen etwas, das sie getan hat. Was meint sie damit? Was hat sie getan?«
»Nichts«, erwiderte Laura. »Sie ist da offenbar anderer Ansicht.«
»Es ist ein charakteristisches Syndrom bei fast allen Fällen von Kindesmißhandlung und Kindesmißbrauch«, erklärte Laura. Obwohl sie sich um einen ruhigen, sachlichen Tonfall bemühte, konnte Dan ihre nervliche Anspannung und Angst heraushören. Es gelang ihr nur unter Aufbietung aller Willenskraft, den emotionalen Aufruhr zu bewältigen, in den Melanies verheerender Zustand sie versetzt hatte. »In solchen Fällen ist soviel Scham im Spiel«, fuhr sie fort. »Sie können sich das nicht vorstellen. Das Schamgefühl dieser Kinder ist überwältigend, nicht nur bei sexuellem Mißbrauch, sondern bei jeder Art von Mißbrauch und Mißhandlung. Häufig schämt sich ein solches Kind nicht nur, sondern es entwickelt regelrechte Schuldgefühle, so als trüge es selbst die Verantwortung für die Mißhandlung. Solche Kinder sind aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen total verwirrt und verstört. Sie wissen nicht, was sie fühlen sollen, sie wissen nur, daß das, was ihnen angetan wurde, nicht richtig war, und aufgrund einer vertrackten Logik geben sie sich die Schuld an den Geschehnissen, sich selbst, anstatt den Erwachsenen, von denen sie mißhandelt und mißbraucht wurden. Das ist nicht einmal so unverständlich, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Sie sind schließlich an die Vorstellung gewöhnt, daß Erwachsene viel klüger sind als Kinder, daß Erwachsene immer recht haben. Mein Gott, Sie wären überrascht, wie oft diese Kinder nicht mehr erkennen können, daß sie Opfer sind und nicht den geringsten Grund haben, sich zu schämen. Sie haben jedes Selbstwertgefühl verloren. Sie hassen gich gelbst,
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