Tür ins Dunkel
»Hab keine Angst«, sagte Laura. »Ganz ruhig. Entspann dich. Ich bin bei dir. Du mußt in den Tank steigen. Du mußt es tun, aber dir wird nichts passieren.« Melanies Muskeln entspannten sich, sie sank auf ihrem Stuhl zusammen, aber ihr Gesicht behielt den Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bei, ja dieser Ausdruck verstärkte sich sogar noch. Ihre Augen waren so tief eingesunken, daß es aussah, als würden sie jeden Moment total im Schädel verschwinden und leere Höhlen zurücklassen. Sie war bleich wie Elfenbein, und ihre Lippen waren fast so blutleer wie ihre Haut. Sie wirkte erschütternd zerbrechlich, so als bestünde sie nicht aus Fleisch und Blut und Knochen, sondern aus einem hauchdünnen Gewebe, das zu Staub zerfallen würde, wenn jemand zu laut redete oder eine unvorsichtige Bewegung machte. »Vielleicht sollten wir es für heute genug sein lassen«, schlug Dan Haldane vor.
»Nein«, entgegnete Laura. »Wir müssen weitermachen. Wir müssen wissen, was in jenem grauen Zimmer vor sich ging. Ich kann Melanie durch ihre Erinnerungen leiten, wie schlimm sie auch sein mögen. Ich habe große Erfahrung in dieser Behandlungsmethode.« Doch insgeheim war sie zutiefst beunruhigt und aufgewühlt. Melanie sah aus, als wäre sie schon tot. Wie sie so zusammengesackt dasaß, mit geschlossenen Augen, schien jedes Leben aus ihr gewichen zu sein; ihr wächsernes Gesicht erinnerte an eine Leiche, deren Züge von einem qualvollen Todeskampf gezeichnet waren. Konnten ihre Erinnerungen so schrecklich sein, daß sie tödlich wirkten? Nein. Laura war Psychologin, und sie hatte noch nie gehört, daß diese Therapiemethode für den Patienten gefährlich sein könnte, Und dennoch... In jenes graue Zimmer zurückversetzt zu sein, über den elektrischen Stuhl sprechen zu müssen, in den Deprivationstank steigen zu müssen - das schien über die Kräfte des Mädchens weit hinauszugehen. Diese Erinnerungen mußten so grauenvoll sein, daß sie ihr wie Vampire das Blut aussaugten. »Melanie?«
»Mmmmmmm?«
»Wo bist du jetzt?«
»Ich schwimme.«
»Im Tank?«
»Ich schwimme.«
»Was nimmst du wahr?«
»Wasser. Aber...«
»Aber was?«
»Aber auch das vergeht...«
»Was nimmst du sonst noch wahr?«
»Nichts.«
»Was siehst du?«
»Dunkelheit.«
»Was hörst du?«
»Mein Herz schlägt... pocht... aber.,. das vergeht..,«
»Was sollst du in dem Tank lernen?« Das Mädchen schwieg, »Melanie?« Nichts. Laura rief eindringlich: »Melanie, bleib bei mir! Zieh dich nicht von mir zurück! Bleib bei mir!«
Das Mädchen bewegte sich und atmete durch, und Laura hatte das Gefühl, ihre Tochter im letzten Moment von dem fernen lichtlosen Ufer des Stromes zurückgerissen zu haben, der von dieser Welt ins Reich der Schatten führt.
»Mmmmmm.«
»Bist du bei mir?«
»Ja«, hauchte das Mädchen kaum vernehmbar. »Du bist im Tank«, sagte Laura. »Alles ist wie immer... nur bin ich diesmal zusammen mit dir in dem Tank. Du kannst jederzeit meine Hand ergreifen und dich daran klammern. Verstehst du? Du schwimmst also... du fühlst nichts, du siehst nichts, du hörst nichts... aber wozu bist du in diesem Tank?«
»Ich soll lernen... loszulassen.«
»Was loszulassen?«
»Alles. Mich.«
»Du sollst lernen, dich loszulassen? Was bedeutet das?«
»Entweichen.«
»Wohin?«
»Fort... fort... fort...« Laura seufzte frustriert und versuchte es mit einer neuen Taktik. »Woran denkst du?« Melanies Stimme bekam einen noch entsetzteren Klang. »Die Tür...«
»Die Tür zum Dezember?«
»Ja.«
»Was ist die Tür zum Dezember?«
»Laß nicht zu, daß sie aufgeht! Halt sie geschlossen'.« rief das Mädchen.
»Sie ist fest geschlossen, Liebling.«
»Nein, nein, nein! Sie wird sich öffnen. Ich hasse das! Oh, bitte, bitte helft mir, Mami, hilf mir, Vati, hilf mir, tut es nicht, bitte, bitte helft mir, ich hasse es, wenn sie sich öffnet, ich hasse es!«
Melanle schrie jetzt; ihre Halsmuskeln waren angespannt, ihre Schläfenadern schwollen an und pochten, aber trotz dieses plötzlichen Erregungszustands kam keine Farbe in ihr Gesicht; es wurde im Gegenteil noch eine Spur bleicher. Das Kind hatte panische Angst vor dem, was sich hinter jener Tür verbarg, und diese Angst übertrug sich auf Laura. Sie spürte ein kaltes Prickeln im Nacken, und ein Schauder lief ihr den Rücken hinab.
Dan verfolgte mit großer Bewunderung, wie Laura das ge ängstigte Kind beruhigte. Seine eigenen Nerven waren von dem Geschehen
Weitere Kostenlose Bücher