Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
gespielt hat. Angesichts der vielfachen Turbulenzen in den bald 100 Jahren Republikgeschichte, die nur selten von »Good Governance« geprägt war, versteht sich das Militär als letzten Garanten für die Einheit und Unteilbarkeit des Landes und die Aufrechterhaltung der verfassungsrechtlich festgelegten Trennung von Staat und Religion beziehungsweise der staatlichen Kontrolle der Religion. Dieses Selbstverständnis der Offiziere korrespondiert mit der Erwartung und Wahrnehmung der Bevölkerung. Die Armee ist der Stabilitätsfaktor des Landes schlechthin. Bei allen Umfragen, in denen das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen des Landes abgefragt wurde, erreicht die Armee regelmäßig die höchsten Werte. Über 75 Prozent der Bevölkerung trauen der Armee und dem Generalstab und gehen implizit davon aus, dass, falls in der Politik alles schiefläuft, die Armee immer noch bereitsteht.
Dass die türkische Armee seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1950 bereits dreimal geputscht hat und sich auch 2007 noch massiv in den Präsidentschaftswahlkampf einmischte, ist deshalb nicht nur Ausdruck des Machtwillens der Generäle, sondern entspricht auch den Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung. Die Apologeten des türkischen Militärs weisen zu Recht darauf hin, dass es in dieser Armee keinen Hang zu einem Napoleon gibt und auch kein Franco oder Pinochet die Macht übernommen hat. Die Armee ist ein Kollektiv, das sich an seine eigenen Regeln hält. Generalstabschefs treten genau nach Abschluss ihrer Dienstzeit zurück, und wenn sie Politik machen wollen, gehen sie anschließend als Zivilist in eine Partei. Die Putsche dienten alle dazu, das Land auf einem säkularen, prowestlichen beziehungsweise pro-Nato-Kurs zu halten, und dies – wenn notwendig – auch mit massiver Gewalt durchzusetzen. War dieses Ziel erreicht, sicherten die Generäle ihr Vermächtnis mit einer neuen Verfassung und zogen sich in die Kasernen zurück. Der erste Putsch 1960 geschah in einer ähnlichen politischen Gemengelage wie der heutigen. Die rechtskonservative Regierung Adnan Menderes wollte bereits damals den Kemalismus samt dem wirtschaftlichen Etatismus der großen Staatsbetriebe entsorgen und einen Kapitalismus mit islamischer Verbrämung einführen. Der Putsch gegen Menderes gilt deshalb als linker Putsch, der dem Land tatsächlich anschließend die freiheitlichste Verfassung bescherte, die die Türkei bis heute hatte. Der Putsch von 1971 war eine gewaltlose Intervention, die sich gegen die Unfähigkeit der politischen Klasse, eine stabile Regierung zu bilden, richtete – er war eher ein Wink mit dem Zaunpfahl, es gab weniger Verhaftungen als 1960 und auch keine Todesurteile. Der Putsch änderte denn auch wenig am politischen Chaos der 70 er Jahre, das dann gegen Ende des Jahrzehnts in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen einer starken revolutionären Linken und faschistischen Gruppen endete und täglich etliche Todesopfer forderte. Gegen die Straßenkämpfe, die damals in allen großen Städten des Landes tobten, erwiesen sich sowohl die Regierung wie auch die Polizei als weitgehend machtlos, so dass tatsächlich wiederum eine breite Bevölkerungsmehrheit aufatmete, als die Generäle die Panzer rollen ließen, um dem Quasi-Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten.
Der Putsch vom 12 . September 1980 war dann allerdings wesentlich mehr als eine kurzfristige Kurskorrektur. Er führte zu einer fast vier Jahre andauernden Militärherrschaft, die danach noch in die Zeit der zivilen Regierungen verlängert wurde, weil der damalige Generalstabschef und Putschistenführer Kenan Evren, der heute immer noch ein geruhsames Rentnerleben in einer Villa am Mittelmeer führt, sich anschließend noch für fünf Jahre zum Präsidenten wählen ließ. Ziel des Putsches war die Zerschlagung der breiten außerparlamentarischen linken Bewegung, einschließlich der Gewerkschaften. Entsprechend dieser Vorgaben wurden nicht nur einige führende Parteipolitiker interniert, sondern Zehntausende Gewerkschafter, Studenten und Arbeiter verhaftet und jahrelang unter brutalsten Bedingungen weggesperrt. Beschwerden über unmenschliche Haftbedingungen begegnete Evren mit dem Spruch: »Sollen wir diese Verräter etwa noch gut füttern?« Es kam zu Todesurteilen, von denen anfangs auch 52 vollstreckt wurden, Mammutprozessen mit Hunderten Angeklagten und einer breiten Fluchtbewegung türkischer Intellektueller nach Westeuropa. Viele von ihnen kamen nach
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