Türkisches Gambit
sein Glas und schenkte sich sofort nach. Kauend bemerkte er: »Der Plan ist natürlich gut. Als persönlicher Vertreter Seiner Hoheit kenne ich ihn und habe sogar teilweise daran mitgearbeitet. Besonders geistreich ist das Umgehungsmanöver in der Deckung einer Hügelkette. Die Kolonnen von Schachowskoi und Weljaminow rücken von Osten gegen Plewna. Die kleine Abteilung von Sobolew zieht im Süden die Aufmerksamkeit von Osman Pascha auf sich. Auf dem Papier sieht das sehr schön aus.« Lucan leerte sein Glas. »Aber der Krieg, Mademoiselle Warwara, findet nicht auf dem Papier statt. Ihre Landsleute werden rein gar nichts erreichen.«
»Aber warum nicht?« fragte Warja.
Der Oberst tippte sich auflachend gegen die Schläfe.
»Ich bin Stratege, Mademoiselle, und blicke weiter als Ihre Generalstäbler. Hier« (er zeigte auf seine Kartentasche) »habe ich die Kopie meines Rapports, den ich gestern an Fürst Karl schickte. Darin prophezeie ich den Russen ein vollständiges Fiasko, und ich bin sicher, Seine Hoheit wird meinen Scharfblick zu würdigen wissen. Ihre Heerführer sind zu hochmütig und selbstsicher, sie überschätzen ihre Soldaten und unterschätzen die Türken. Und auch uns, die rumänischen Verbündeten. Macht nichts, nach der heutigen Lektion wird der Zar persönlich uns um Hilfe bitten, Sie werden sehen.«
Der Oberst brach sich ein ansehnliches Stück Roquefort ab. Warjas Stimmung war nun endgültig verdorben.
Lucans finstere Vorhersagen trafen ein.
Am Abend standen Warja und Fandorin an der Chaussee nach Plewna. An ihnen vorbei zog eine nicht enden wollende Kette von Fuhrwerken mit Verwundeten. Die Berechnung der Verluste war noch nicht abgeschlossen, aber im Lazarett hieß es, mindestens siebentausend Mann seien ausgefallen. Es wurde erzählt, Sobolew habe sich ausgezeichnet, indem er die türkische Gegenattacke auf sich zog – ohne seine Kosaken wäre die Niederlage noch hundertmal bitterer geworden. Staunen herrschte über die türkischen Artilleristen, die eine teuflische Treffsicherheit demonstriert und mit ihrem Feuer die Kolonnen schon während des Anmarschs dezimiert hatten, noch ehe sich die Bataillone zur Attacke entfalten konnten.
Warja hatte Fandorin das alles wiedergegeben, aber der sagte nichts – entweder wußte er schon alles, oder er war erschüttert, das war nicht zu ergründen.
Die Wagenkolonne stockte – eines der Fuhrwerke hatte ein Rad verloren. Warja, die sich Mühe gab, den Anblick der Verkrüppelten zu meiden, guckte den kaputten Wagen genauer an und schrie auf, denn das Gesicht des verwundeten Offiziers, das in der hellen Sommerdämmerung matt schimmerte, kam ihr bekannt vor. Sie trat näher – richtig, es war Oberst Sablin, einer der ständigen Klubbesucher. Er war bewußtlos, mit einem blutigen Uniformmantel zugedeckt. Sein Körper wirkte sonderbar kurz.
»Ein Bekannter?« fragte der Feldscher, der den Oberst begleitete. »Eine Granate hat ihm beide Beine abgerissen. Kein Glück gehabt.«
Warja wich zurück zu Fandorin und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Sie weinte lange, dann versiegten ihre Tränen, dann wurde es kalt, und noch immer wurden Verwundete vorbeigefahren.
»Lucan wird im Klub für einen Dummkopf gehalten, aber er ist klüger als Krüdener«, sagte Warja, denn sie konnte das Schweigen nicht mehr ertragen.
Fandorin sah sie fragend an, und sie erläuterte: »Er hat mir schon am Morgen gesagt, daß der Sturmangriff mißlingt. Die Disposition sei gut, aber die Feldherren taugten nichts. Die Soldaten auch nicht.«
»Das hat er gesagt?« fragte Fandorin zurück. »So ist das also. Das ändert …«
Er sprach nicht weiter, zog die Brauen zusammen.
»Was ändert es?«
Schweigen.
»Was ändert es? He?«
Warja wurde zornig. »Eine blöde Manier! Einen Satz anfangen und dann nicht weitersprechen! Was soll das?«
Sie hätte den Titularrat am liebsten bei den Schultern gepacktund tüchtig durchgeschüttelt. Dieser aufgeblasene, schlecht erzogene Milchbart! Spielt hier den Indianerhäuptling Chingachgook!
»Warwara Andrejewna, das ist Verrat!« sagte Fandorin plötzlich.
»Verrat? Wieso Verrat?«
»Das müssen wir klären. Also.« Fandorin rieb sich die Stirn. »Oberst Lucan, nicht eben eine Geistesgröße, sagt als einziger die Niederlage der russischen Armee voraus. Erstens. Mit der Disposition war er vertraut, er hatte sogar als Vertreter des Fürsten Karl eine Kopie erhalten, zweitens. Der Erfolg der Operation hing von dem verdeckten
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