Türkisches Gambit
vernünftig. Um Beaconsfield und Derby die Hände zu binden, genügt ein guter Presseskandal.«
Während dieser ganzen Erörterung war Warja unauffällig, in Viertelschrittchen, näher an Fandorin herangetreten und stand nun unmittelbar neben ihm.
»Wer ist Derby?« fragte sie flüsternd.
»Der Außenminister«, murmelte Fandorin, fast ohne die Lippen zu bewegen.
Misinow drehte sich nach den Flüsternden um und zog drohend die Brauen zusammen.
»Ihr MacLaughlin ist offenbar mit allen Wassern gewaschen, er kennt keine Vorurteile und Sentiments«, setzte der Kanzler seine Betrachtungen fort. »Wenn man ihn in London aufspürt, kann man vor dem Skandal ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Ihm Beweisstücke zeigen, mit Veröffentlichung drohen. Denn wenn es zum Skandal kommt, ist er erledigt. Ich kenne die britischen Gepflogenheiten – in der Gesellschaft gibt ihm keiner mehr die Hand, auch wenn er von Kopf bis Fuß mit Orden behängt ist. Immerhin zwei Morde, das ist keine Kleinigkeit. Da könnte ein Kriminalprozeß drohen.Er ist ein kluger Mann. Wenn man ihm dann noch gutes Geld anbietet, vielleicht auch ein Gut im Wolga-Gebiet … Er kann wichtige Informationen liefern, die Schuwalow benutzt, um Druck auf Lord Derby auszuüben. Sowie er mit Entlarvung droht, wird das britische Kabinett sofort weich wie Butter. Was meinen Sie, General, wird MacLaughlin auf die Kombination von Drohung und Bestechung eingehen?«
»Es bleibt ihm nichts anderes übrig«, versprach der General überzeugt. »Ich habe diese Variante ebenfalls erwogen. Darum habe ich ja Herrn Fandorin mitgebracht. Ohne allerhöchste Billigung einen Mann für eine so heikle Operation zu bestimmen, das habe ich nicht gewagt. Da steht schon sehr viel auf dem Spiel. Fandorin ist findig, energisch, hat eine originelle Denkstruktur und, vor allem, er war schon mehrmals mit geheimen, höchst komplizierten Aufträgen in London und ist glänzend damit zurechtgekommen. Er beherrscht die Sprache. Kennt MacLaughlin persönlich. Wenn nötig, entführt er ihn. Wenn das nicht sein muß, kommt er mit ihm überein. Gelingt das nicht, so hilft er Schuwalow, einen tüchtigen Skandal zu organisieren. Er kann gegen MacLaughlin aussagen und selbst als Augenzeuge auftreten. Er besitzt eine außergewöhnliche Überzeugungskraft.«
»Wer ist Schuwalow?« wisperte Warja.
»Unser Botschafter«, antwortete der Titularrat zerstreut, der in Gedanken ganz woanders war und dem General wohl nicht sehr aufmerksam zugehört hatte.
»Na, Fandorin, schaffst du das?« fragte der Imperator. »Fährst du nach London?«
»Natürlich, Euer M-majestät«, sagte Fandorin. »Warum sollte ich nicht?«
Der Monarch sah ihn prüfend an, spürte wohl etwas Unausgesprochenes, doch Fandorin fügte nichts mehr hinzu.
»Also, Misinow, du handelst in zwei Richtungen«, resümierte Alexander. »Du suchst in Konstantinopel und in London. Aber verlier keine Zeit, wir haben nicht mehr viel davon.«
Als sie in das Adjutantenzimmer zurückgingen, fragte Warja den General: »Und wenn MacLaughlin gar nicht gefunden wird?«
»Meine Liebe, glauben Sie meinem Gespür.« Der General holte tief Luft. »Mit diesem Gentleman werden wir uns ganz sicher noch treffen.«
ZWÖLFTES KAPITEL,
in welchem die Ereignisse
eine unerwartete Wendung nehmen
»Petersburger Nachrichten«
vom 8. (20.) Januar 1878
DIE TÜRKEN BITTEN UM FRIEDEN!
»Nach der Kapitulation von Wessel Pascha, der Einnahme von Philippopel und der Übergabe des alten Adrianopel, das gestern den Kosaken des Weißen Generals die Tore öffnete, ist der Krieg endgültig entschieden, und heute früh traf der Zug mit den türkischen Parlamentären bei unseren ruhmreichen Truppen ein. Der Zug wurde in Adrianopel gestoppt, und die Paschas wurden in den Stab des Oberbefehlshabers gebracht, der in dem Ort Hermanli Quartier genommen hat. Als der Führer der türkischen Delegation, der 76jährige Namik Pascha, über die voraussichtlichen Friedensbedingungen unterrichtet wurde, rief er verzweifelt aus: ›Votre armée est victorieuse, votre ambition es satisfaite et la Turkie est détruite!‹ 14
Nun, fügen wir hinzu, schadet der Türkei gar nichts.«
Sie hatten sich nicht mal richtig verabschiedet. Auf der Vortreppe des »Feldpalastes« fing Sobolew Warja ab, verzauberte sie mit der Aura von Ruhm und Erfolg und entführte sie in seinen Stab zur Siegesfeier. Sie konnte Fandorin grade noch zunicken, und am nächsten Morgen war er nicht mehr im
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