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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Lager. Der Bursche Trifon sagte: »Sind abgereist. Kommen Sie in einem Monat wieder.«
    Aber der Monat ging ins Land, und der Titularrat war noch nicht wieder da. Es war wohl nicht so ganz einfach, MacLaughlin in England aufzuspüren.
    Nicht daß Warja sich langweilte – im Gegenteil. Nachdem sie das Plewnaer Lager verlassen hatten, wurde das Leben spannend. Jeden Tag neue Städte, phantastische Berglandschaften, und fast täglich gab es Siegesfeiern. Der Stab des Oberbefehlshabers zog zunächst nach Kasanlik jenseits des Balkangebirges, dann noch weiter südlich nach Hermanli. Hier war kein Winter mehr. Die Bäume prangten im Grün, Schnee war nur noch auf den fernen Berggipfeln zu sehen.
    Ohne Fandorin hatte Warja nichts zu tun. Sie gehörte nach wie vor zum Stab, bezog ein Gehalt für Dezember und Januar plus Reisespesen plus Weihnachtsgratifikation. Das Geld sammelte sich an, und sie konnte es nicht ausgeben. Einmal wollte sie in Sofia eine bezaubernde kupferne Öllampe kaufen (fast wie die Lampe des Aladin), aber daraus wurde nichts. D’Hévrais und Gridnew hätten sich fast darum geschlagen, wer Warja das Spielzeug überreichen durfte. Sie mußte verzichten.
    Ja, Gridnew. Der achtzehnjährige Fähnrich war Warja von Sobolew zugeteilt worden. Der Weiße General war Tag und Nacht mit kriegerischen Dingen beschäftigt, doch darüber vergaß er Warja nicht. Wenn er sich mal losreißen und in den Stab kommen konnte, schaute er unbedingt bei ihr vorbei, er schickte ihr gigantische Blumensträuße, lud sie zu Festgelagen ein (Neujahr wurde zweimal begangen, nach westlichem und nach russischem Kalender). Aber das war dem hartnäckigen Sobolew nicht genug. Er kommandierte eine seiner Ordonnanzen zu ihrer Verfügung ab – »zur Hilfe auf Reisen und zum Schutz«. Der Fähnrich schmollte zunächst und betrachtete seinen berockten Vorgesetzten mit den Blickeneines Jungwolfs, wurde aber ziemlich schnell zahm und hegte wohl sogar romantische Gefühle. Das war komisch, doch auch schmeichelhaft. Gridnew war häßlich (einen Schönen würde der Stratege Sobolew ihr nicht zugewiesen haben), aber nett und hitzköpfig wie ein junger Hund. Neben ihm fühlte sich die zweiundzwanzigjährige Warja als erwachsene und erfahrene Frau.
    Ihre Stellung war ziemlich sonderbar. Im Stab galt sie offenbar als Sobolews Geliebte. Und da alle von dem Weißen General begeistert waren und ihm alles verziehen, verurteilte sie niemand. Im Gegenteil, auf sie fiel ein Abglanz von Sobolews Ruhm. Viele der Offiziere würden sich sogar entrüstet haben, hätten sie gewußt, daß sie es wagte, den ruhmreichen Achilles abzuweisen und einem jämmerlichen Chiffrierer die Treue zu halten.
    Mit Petja lief es, um ehrlich zu sein, nicht besonders gut. Nein, eifersüchtig war er nicht, er machte ihr auch keine Szenen. Aber seit seinem Selbstmordversuch war es mit ihm schwierig geworden. Erstens bekam sie ihn fast nie zu sehen – er »tilgte seine Schuld« durch Arbeit, da es in der Chiffrierabteilung unmöglich war, sie mit Blut zu tilgen. Er arbeitete zwei Schichten hintereinander, schlief an Ort und Stelle auf einem Klappbett, ging nicht in den Presseklub, nahm nicht an den kleinen Gelagen teil. Weihnachten mußte sie ohne ihn feiern. Wenn er sie sah, leuchtete sein Gesicht in stiller, zärtlicher Freude. Er sprach mit ihr wie mit der Ikone der Gottesmutter von Wladimir: Sie sei so licht, sie sei seine einzige Hoffnung, und ohne sie sei er gänzlich verloren.
    Er tat ihr unsagbar leid. Zugleich aber stellte sie sich immer öfter die unangenehme Frage: Kann man einen Mann aus Mitleid heiraten? Wohl nicht. Aber noch unvorstellbarerwar es, ihm zu sagen: »Weißt du, Petja, ich hab’s mir anders überlegt und werde nicht deine Frau.« Das wäre so gewesen, als gäbe man einem angeschossenen Tier den Gnadenschuß. Eine rundherum verfahrene Geschichte.
    In dem von Ort zu Ort ziehenden Presseklub traf sich noch immer eine zahlreiche Gesellschaft, aber es ging nicht mehr so hoch her wie in den unvergeßlichen Zeiten mit Surow. Die Kartenspiele liefen mit gemäßigten Einsätzen. Die Schachpartien hatten mit dem Verschwinden MacLaughlins aufgehört. Die Journalisten erwähnten den Iren nicht mehr, jedenfalls nicht in Gegenwart der Russen, aber die beiden übrigen britischen Korrespondenten wurden demonstrativ boykottiert und besuchten den Klub nicht mehr.
    Es gab natürlich weiterhin Zechgelage und Skandale. Zweimal kam es beinahe zum Blutvergießen, und beide Male

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