Tuermer - Roman
Kerls, da treibt dir der Russe keinen Keil rein. Keile, sagte Vater langsam und gedehnt, Keile sind meines Wissens auch gar nicht die häufigste Todesursache. Kollerts mächtiger Kopf färbte sich puterrot. Woher Vater den Mut nahm, weiß ich nicht, aber das Rot reizte ihn offenbar: Ja, es sind viel weniger die Keile als die Granaten und Schrapnells, an denen so ein Kerl krepiert. Aber Sie sprachen von Kerls, da kenne ich mich rein gar nicht aus, in der Masse mag der Tod auch durch Keile eintreten. Das ist eine eher geometrische Frage. Kollerts Oberkörper neigte sich immer stärker auf Vater zu, von weitem hätte man meinen können, ein Schüler hinge begierig an den Lippen seines Lehrers, nur daß Kollert viel älter als Vater war. Die beiden sahen sich unentwegt an, bis Vater in derselben sorgfältigen Weise fortsetzte: Ich will Sie mit Einzelheiten, sagen wir einem Mann, sagen wir, na, so Mitte dreißig, nicht aufhalten. Es scheint, wie gesagt, eine geometrische Frage. Ein Zahlenexperiment. Auf Kollerts Stirn waren kleine Schweißtropfen erschienen, er hatte eine fistelnd leise Stimme, als er sagte: Das hier ist kein Storchennest, Facher. Wenn Sie meinen, Sie wären unentbehrlich –, er rang nach Luft, mußte husten, er merkte, daß er so nicht weiterkam und hielt kurz inne, um mit kräftigerer Stimme zu sagen: Als Glöckner waren Sie die längste Zeit im Amt. Und zählen Sie nicht darauf, daß Sie als Türmer zur Hälfte der Stadt unterstellt sind. Den letzten Teil des Satzes hatte er schon ohne sich zurückzuwenden von der Treppe aus gesprochen, die er mit unterdrücktem Keuchen hinabwälzte. Vater stand, mit dem Fuß wippend, und warf mir seinen Verschwörerblick zu: Na ja, warum sollte das mit den Keilen nicht möglich sein, wenn man sich so neunzigtausend Mann jetzt mal als Zementmauer vorstellte, und da so einen russischen Keil rein, das bröselt weg wie nichts, ist schließlich reines Material, solide hochgezogen.
Ich duckte mich etwas unter Mutters feindlichem Blick, den ich im Nacken spürte, aber ich war zu stolz auf Vater, zu dankbar für diesen Sieg, der uns vielleicht Kopf und Kragen kosten konnte. In dieser Zeit legte keiner es darauf an, seine Wohnung und seine Arbeit zu verlieren. Doch das war egal jetzt, ich sagte: Ich fand an den Russen auch immer so etwas Keilförmiges.
Ich hörte Mutter am Abend im Schlafzimmer schluchzen und hörte das Murmeln meines Vaters, mit dem er sie beruhigen wollte. Mein hilfloser Vater, gegen den feisten Kollert steht er da, als wäre es nichts, und das Schluchzen meiner Mutter macht ihn so ungeschickt.
Von nun an kam Kollert nicht mehr, er schickte seinen Stellvertreter Rensch, der sich nicht mal mehr den Anschein gab, als wäre er wegen eines feierabendlichen Gesprächs die zweihundertvierundsechzig Stufen hochgestiegen. Rensch klopfte manchmal, bevor er eintrat. Manchmal unterließ er es auch, um sich dann mit ein paar anzüglichen Worten bei Mutter zu entschuldigen. Er musterte mit indiskretem Blick alles, was in seinem Gesichtsfeld das kleinste Anzeichen einer Unregelmäßigkeit trug. Vorher hatte er, ohne sich die Mühe zu machen, leise zu sein, schon auf dem Dachboden geschnüffelt. Ob er etwas gefunden hatte, wußte man nie, Mutter beruhigte sich erst ein paar Tage nach seinen Besuchen.
Köppen
Köppen ist weg. Vor zwei Wochen hat er sich freiwillig gemeldet. Er war vorher zu mir auf den Turm gekommen: Jan, komm mit. Stell dir vor, Jan, wir beide, wir in Montur, wie wir durch das Gras gehen, durchs hohe Gras. Hellwach, gespannt, bereit für jede Gefahr. Wie der Wind über das Gras geht und es in Schwaden niederdrückt und wie wir uns ducken in jede Windbö und vorwärtskriechen unter dem Wind, immer vorwärts. Wie wir Land gewinnen, mit jedem Tag ein Stück Land: Erde, auf der wir liegen, in die wir uns krallen, die wir schmecken und riechen. Und dann wieder richten wir uns auf, stürmen vorwärts, jeder Schritt gewonnenes Land. Und abends ein ganz kleines Feuer in einer Senke und ein karges Essen, besser als jedes Festessen. Eine kurze Pause inmitten der unaufhaltsamen Bewegung. Jan, wie kann man da ruhig sein, wenn die Welt so schnell ihr Gesicht verändert, wenn die Meldungen sich überschlagen und am Abend nichts so alt ist wie das Morgenblatt. Und wenn einer von uns verletzt wird, wird der andere ihm die Wunde verbinden. Und wenn einer fällt, bekommt er ein einfaches Grab und ein Kreuz aus Holz und Wegrandblumen. Aber feierlicher als jede
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