Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
aufgeschlagenen Fingerknöchel und reckte sie dann vorsichtig und unter Schmerzen. Irgendjemand reichte ihm einen vollen Zinnbecher, schlug ihm anerkennend auf den Rücken und verschwand wieder in der Schenke.
»Die Schmeißfliege ist enttäuscht«, sagte Jesse, woraufhin alle den Kopf drehten und dem Styx am Ende der Straße nachsahen, der ihnen den Rücken zugewandt hatte und in der Dunkelheit verschwand, wobei er mit einer seltsamen Sonnenbrille auf seinen Oberschenkel klopfte.
»Aber er hat doch gekriegt, was er wollte«, sagte Tam niedergeschlagen. »Schon bald wird überall bekannt sein, dass ich in eine weitere Schlägerei verwickelt war.«
»Macht nichts«, sagte Jesse Shingles. »Du bist im Recht. Jeder weiß, dass Walsh die Geschichte angezettelt hat.«
Tam warf einen Blick auf den traurigen, schlaffen Körper von Heraldo Walsh, der noch immer dort lag, wo er zu Boden gegangen war. Nicht ein einziger seiner Kumpane hatte sich die Mühe gemacht, ihn von der Straße zu holen.
»Eines steht jedenfalls fest: Der Kerl wird sich wie ausgekotzt fühlen, wenn er wieder aufwacht«, lachte Imago in sich hinein, als der Wirt einen Eimer Wasser über die leblose Gestalt schüttete und dann feixend in die Schenke zurückkehrte.
Tam nickte nachdenklich, nahm einen kräftigen Schluck Bier und wischte sich mit dem Ärmel den Schaum von den aufgeplatzten Lippen.
»Wenn er wieder aufwacht«, sagte er leise.
26
Rebeccas Zimmer war erfüllt vom schweren Dröhnen des montagmorgendlichen Berufsverkehrs, und ein ungeduldiges Hupkonzert drang von der Straße zu ihr hinauf in den dreizehnten Stock des Mietshauses. Eine leichte Brise blähte die Vorhänge. Angewidert rümpfte sie die Nase, als sie den abgestandenen Zigarettenqualm roch, den ihre kettenrauchende Tante Jean am Abend zuvor produziert hatte. Obwohl die Tür zu Rebeccas Zimmer fest verschlossen war, drang der Rauch durch jede Ritze, jeden Spalt, wie ein heimtückischer, dichter Nebel.
Rebecca stand auf, streifte ihren Morgenmantel über und machte ihr Bett; dabei trällerte sie die ersten Zeilen von »You Are My Sunshine« ; den Rest des Liedes sang sie mit vagen La-La-Las, während sie gleichzeitig ein schwarzes Kleid und eine weiße Bluse auf der Bettdecke arrangierte.
Sie ging zur Tür und legte die Hand auf den Türgriff, blieb dann aber plötzlich abrupt stehen, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen. Langsam drehte sie sich um und kehrte zum Bett zurück. Ihr Blick fiel auf zwei kleine Fotografien in silbernen Rahmen, die auf dem Nachttischchen standen.
Sie nahm die Bilderrahmen, setzte sich auf das Bett und betrachtete sie. Bei einem der Fotos handelte es sich um eine leicht verschwommene Aufnahme von Will, der sich auf seinen Spaten stützte. Das andere Foto zeigte Dr. und Mrs Burrows in jungen Jahren, wie sie auf gestreiften Liegestühlen an einem unbekannten Strand saßen. Mrs Burrows starrte auf ein riesiges Eis und Dr. Burrows schien gerade nach einer Fliege zu schlagen, seine fuchtelnde Hand war verwackelt.
Sie waren in alle Himmelsrichtungen verstreut – ihre Familie existierte nicht mehr. Glaubten sie ernsthaft, sie würde hier hocken bleiben und das Kindermädchen für Tante Jean spielen, die noch träger und noch fordernder war als Mrs Burrows?
»Nein«, sagte Rebecca laut, »damit ist jetzt Schluss.« Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie warf einen letzten Blick auf die Fotos und holte tief Luft.
»Ballast!«, sagte sie und schleuderte die beiden Bilder so heftig von sich, dass sie gegen die verfärbte Fußleiste krachten und die Rahmen splitterten.
Zwanzig Minuten später war Rebecca vollständig angezogen und reisebereit. Sie stellte ihren kleinen Koffer neben die Wohnungstür und ging in die Küche. In einer Schublade neben dem Spülbecken fand sie Tante Jeans Zigarettenvorrat – eine ganze Stange. Rebecca riss sämtliche Packungen auf und schüttete ihren Inhalt in die Spüle. Dann widmete sie sich Tante Jeans billigen Wodkaflaschen: Sie drehte die Schraubverschlüsse auf und goss alle fünf Flaschen aus – über die Zigaretten.
Zum Schluss griff sie nach der Zündholzpackung, die neben dem Gasherd lag. Sie nahm ein einzelnes Streichholz heraus, ließ es aufflammen und zündete ein zusammengeknülltes Stück Küchenpapier an.
Dann trat sie einen Schritt zurück und warf die brennende Papierkugel in die Spüle. Mit einem befriedigenden Wuff! gingen die Zigaretten und der Alkohol in Flammen auf; Feuerzungen
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