Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
loderten über den Beckenrand und sprangen auf die Kunststoffarmaturen und die angeschlagenen Blümchenfliesen über. Rebecca nahm sich nicht die Zeit, den Anblick zu genießen. Die Wohnungstür fiel krachend hinter ihr ins Schloss, und als das Heulen des Rauchmelders einsetzte, stürmte sie mit ihrem kleinen Koffer in der Hand bereits die Treppen hinunter.
Seit sein Freund plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war, hatte Chester in der immerwährenden Nacht der Arrestzelle den Punkt, an dem er noch so etwas wie Verzweiflung empfand, längst hinter sich gelassen.
»Eins. Zwei. Dr …« Er versuchte, seine Arme durchzudrücken und den Liegestütz zu beenden, der zu seinem täglichen Trainingsprogramm in der Zelle gehörte.
»Dr …« Er holte tief Luft und spannte seine Arme an, allerdings ohne wirkliche Begeisterung.
»Dr …« Langsam blies er die Luft wieder aus und ließ sich geschlagen nach vorne sinken, sodass sein Gesicht den spürbar schmutzigen Steinboden berührte. Dann rollte er sich auf die Seite und setzte sich auf. Sein Blick wanderte zu der Sichtluke in der Tür, um sicherzugehen, dass er nicht beim Beten beobachtet wurde. Lieber Gott …
Für Chester gehörten Gebete zu den befangenen, gelegentlich von Hustern unterbrochenen Ruhemomenten in der Schulaula, die auf die schlecht gesungenen Kirchenlieder folgten – welche manche Jungen zum großen Vergnügen ihrer kichernden Komplizen mit schmutzigen Versen würzten.
Nein, nur Dumpfbacken beteten ernsthaft.
… bitte schick jemanden …
Er presste seine Hände noch fester zusammen -jedes Gefühl der Scham war verschwunden. Was hätte er auch sonst tun können? Er erinnerte sich an seinen Großonkel, der eines Tages bei ihnen zu Hause aufgetaucht war und das Gästezimmer belegt hatte. Chesters Mutter hatte Chester beiseitegenommen und ihm erklärt, dass der merkwürdige kleine, spindeldürre Mann sich in einem Londoner Krankenhaus einer Krebsbehandlung unterziehen musste. Und obwohl Chester ihn noch nie gesehen hatte, gehörte er nun mal zur Familie und das wäre sehr wichtig, hatte seine Mutter gesagt.
Chester rief sich das Bild des Mannes wieder vor Augen, wie er mit seiner Wettzeitung, der Racing Post, am Tisch gesessen hatte und den Teller köstlicher Spaghetti Bolognese mit den harschen Worten »Diesen ausländischen Mist ess ich nicht!« wegschob. Er erinnerte sich an den rasselnden Husten, der den Konsum der zahllosen »Selbstgedrehten« begleitete, die sein Großonkel weiterhin rauchte – sehr zum Verdruss von Chesters Mutter.
In der zweiten Woche, in der sie regelmäßig mit dem Wagen zum Krankenhaus fuhren, war der kleine Mann immer schwächer und in sich gekehrter geworden, wie ein verwelkendes Blatt an einem Zweig. Und schließlich war er nicht mehr in der Lage gewesen, vom »Leben im Norden« zu reden oder auch nur seinen Tee zu trinken. Chester hatte gehört, wie der kleine Mann im Gästezimmer der Familie zwischen schrecklich pfeifenden Atemzügen Gott angefleht hatte, kurz bevor er gestorben war. Er hatte es gehört, aber nie verstanden. Doch jetzt verstand er es.
… hilf mir … bitte, bitte hilf mir …
Chester fühlte sich allein und im Stich gelassen. Warum, warum nur, hatte er Will auf diese lächerliche Spritztour begleitet? Warum war er nicht einfach zu Hause geblieben? Er könnte jetzt in seinem Bett liegen, sicher und warm unter seiner Decke … Stattdessen hockte er hier, denn er hatte ja unbedingt mit Will mitgehen müssen … Und jetzt konnte er nichts anderes machen, als zuzusehen, wie die Zeit verging – was sich auch nur daran erkennen ließ, dass in regelmäßigen Abständen eine Schüssel mit deprimierend eintönigem Brei durch die Luke geschoben wurde. Die Stunden dazwischen verbrachte er mit kurzen, unruhigen Schlafphasen. An das beständige Brummen, das seine Zelle erfüllte, hatte er sich inzwischen gewöhnt. Der ältere Polizist hatte ihm erklärt, das hinge mit den Maschinen der »Grubenlüfter« zusammen. Mittlerweile empfand Chester das Geräusch sogar als ziemlich beruhigend.
Seit einiger Zeit war der ältere Polizist Chester gegenüber etwas freundlicher geworden und hatte sich gelegentlich sogar dazu herabgelassen, auf seine Fragen zu antworten. Es schien fast, als spielte es keine Rolle mehr, ob er seine diensteifrige Haltung nun aufrechterhielt oder nicht. Das wiederum erzeugte bei Chester den bösen Verdacht, dass er vielleicht für immer in dieser Zelle hocken müsste – oder dass bald
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