Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
musste. Der Weg führte jetzt steil bergauf, und während Will sich mühsam über zerbrochene Felsstücke hievte, blieb sein Rucksack immer wieder an der Decke hängen.
Plötzlich sah Will vor sich eine Bewegung und verharrte regungslos. Beklommen hob er die Leuchtkugel, um nachzuschauen, und hielt dann den Atem an, als etwas Weißes quer durch den Tunnel zischte und mit einem sanften Plumps keine zwei Meter vor ihm auf dem Boden landete. Es war eine Blindratte von der Größe eines wohlgenährten Kätzchens, mit schneeweißem Fell und zitternden Schnurrhaaren. Sie richtete sich auf, schnupperte begierig und präsentierte ihre großen, glänzenden Schneidezähne. Das Tier zeigte nicht das geringste Anzeichen von Furcht vor dem Jungen.
Will fand einen Stein auf dem Tunnelboden und warf ihn, so fest er nur konnte. Der Stein verfehlte sein Ziel und prallte neben dem Tier gegen die Wand, das jedoch nicht einmal kurz zusammenzuckte. Will spürte, wie Wut in ihm aufstieg – Wut darüber, dass eine einfache Ratte ihn aufhalten wollte –, und er stürzte sich knurrend auf das Tier. Mit einem einzigen mühelosen Satz sprang die Ratte ihm entgegen und landete geschickt auf seiner Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde rührten sich weder der Junge noch das Tier von der Stelle. Will spürte die Schnurrhaare, die weich wie Wimpern gegen seine Wange strichen. Hektisch schüttelte er die Schultern, und die Ratte machte einen Satz, hüpfte kurz auf sein Bein und huschte dann in die entgegengesetzte Richtung davon.
»Kleines Mistbiest«, murmelte Will und versuchte, sich wieder zu fassen, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Auf diese Weise kroch Will weiter und weiter, bis der Tunnel nach einiger Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, endlich wieder an Höhe gewann. Zu seiner großen Erleichterung konnte er fast aufrecht stehen und musste nicht länger auf allen vieren kriechen, da seine Hände inzwischen von den rasiermesserscharfen Scherben auf dem Boden mit Schnittwunden übersät waren. Jetzt, da er wesentlich schneller vorankam, fühlte er sich fast euphorisch und hätte am liebsten laut gesungen. Aber er konnte sich gerade noch zurückhalten, als ihm klar wurde, dass die Wachen des Schädeltors wahrscheinlich nicht sehr weit von ihm entfernt waren und ihn möglicherweise hörten.
Schließlich erreichte er das Ende des Tunnels, vor dem mehrere Lagen dicker Jute hingen, die zur besseren Tarnung mit Schmutz und Dreck bedeckt waren. Will schob den Stoff beiseite und hielt überrascht die Luft an: Der Tunnel endete direkt unterhalb einer Höhlendecke, und von der unten verlaufenden Straße trennte ihn ein mindestens dreißig Meter tiefer Abhang. Will war zwar erleichtert, dass er es so weit geschafft und das Schädeltor hinter sich gelassen hatte, schien sich andererseits aber sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte. Er befand sich in solch schwindelerregender Höhe, dass er sofort annahm, am falschen Ort zu sein. Doch dann fielen ihm Tams Worte wieder ein: »Es sieht auf den ersten Blick unmöglich aus. Aber wenn du es langsam angehen lässt, müsste es klappen. Cal hat es einmal mit mir zusammen geschafft, als er noch viel jünger war, also schaffst du es auch. «
Will beugte sich vor, um die zahlreichen Vorsprünge und Nischen in der Felswand zu inspizieren. Vorsichtig kletterte er über den Rand des Tunnelausgangs und machte sich an den Abstieg. Dabei überprüfte er jeden Griff und Halt, den er mit Händen oder Füßen fand, doppelt, ehe er den nächsten Schritt wagte.
Er hatte gerade einmal sechs Meter zurückgelegt, als er plötzlich von unten ein Geräusch hörte – ein Stöhnen. Abrupt hielt er inne und lauschte; sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Da war es wieder! Will stand mit einem Fuß auf einem schmalen Sims – der andere schwebte in der Luft – und krallte sich mit beiden Händen an einem Felsvorsprung auf Brusthöhe fest. Langsam drehte er den Kopf und blinzelte über seine Schulter.
Auf der Straße trottete ein Mann in Richtung des Schädeltors und trieb zwei ausgemergelte Kühe vor sich her. Er schwang seine Laterne und rief ihnen etwas zu, vollkommen ahnungslos, dass Will sich über ihm befand.
Will hing völlig ungeschützt und frei sichtbar im Fels, aber es gab nichts, was er hätte tun können. Er verhielt sich mucksmäuschenstill und betete inständig, dass der Mann nicht stehen blieb und hochsah. Und dann passierte genau das, was Will am meisten fürchtete: Der Mann
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