Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
hielt plötzlich inne.
Oh, nein! Das war’s dann wohl!
Aus seiner Vogelperspektive konnte Will deutlich den schimmernden weißen Schädel des Mannes erkennen, während dieser etwas aus seiner Umhängetasche holte. Es war eine Tonpfeife mit langem Stiel, die er mit Tabak aus einem Beutel stopfte und dann anzündete, wobei er kleine Rauchwolken in die Luft paffte. Will hörte, wie der Mann den Kühen etwas zurief und dann weiterzog.
Will stieß einen stummen Seufzer der Erleichterung aus, überprüfte dann, ob die Luft rein war, und machte sich rasch an den restlichen Abstieg, bis er schließlich sicher auf dem Boden landete. Dann lief er, so schnell er konnte, die Straße entlang, die auf beiden Seiten von Feldern mit unglaublich großen Pilzen begrenzt wurde. Will identifizierte sie nun mühelos als Herrenschwämme. Die knolligen, eiförmigen Pilzhüte auf den dicken Stielen warfen im Schein seiner hüpfenden Leuchtkugel bizarre, tanzende Schatten an die Höhlenwände.
Als Will einen schmerzhaften Stich in der Seite spürte, verlangsamte er seine Schritte, holte ein paarmal tief Luft und zwang sich dann erneut zur Eile. Er wusste, dass jede Sekunde zählte, wenn er Chester rechtzeitig aus dem Gefängnis befreien wollte. Nachdem er mehrere Höhlen durchquert hatte, wichen die Felder mit Pilzen schließlich einem Bodenbewuchs aus schwarzen Flechten. Erleichtert bemerkte Will in der Ferne die ersten Straßenlaternen und die verschwommene Silhouette eines Gebäudes – es war nicht mehr weit. Plötzlich fand er sich vor einem riesigen Steintorbogen wieder, der aus dem Fels gehauen war. Vorsichtig ging er hindurch, hinein in den Bezirk. Schon bald drängten sich Häuser auf beiden Seiten der Straße, und Will wurde von Minute zu Minute nervöser. Obwohl niemand zu sehen war, versuchte er, das Geräusch seiner schweren Schuhe auf ein Minimum zu beschränken, indem er auf Zehenspitzen lief. Er hatte wahnsinnige Angst, dass jemand aus einem der Häuser herauskommen und ihn entdecken könnte.
Und dann sah er endlich das, wonach er gesucht hatte – den ersten der Nebentunnel, die Tam erwähnt hatte.
»Du wirst dich über die Seitenstraßen heranpirschen. « Will erinnerte sich an die Worte seines Onkels. »Dort ist es wesentlich sicherer. «
»Links, links, rechts.« Während er zügig vorankam, wiederholte er die Reihenfolge, die Tam ihm eingetrichtert hatte.
Die Nebentunnel waren gerade so breit, dass eine Kutsche hindurchpasste. »Sieh zu, dass du sie schnell passierst« ,hatte Tam gesagt. »Falls dir jemand begegnet, sei einfach frech und tu so, als würdest du dahingehören. «
Doch weit und breit war niemand zu sehen, während Will durch die Tunnel rannte und der Rucksack bei jedem Schritt gegen seinen Rücken klatschte. Als er endlich wieder die Haupthöhle erreichte, schwitzte er wie verrückt und schnappte nach Luft. Jetzt erkannte er die gedrungene Silhouette der Polizeiwache zwischen den beiden höheren Gebäuden. Will beschloss, langsamer zu gehen, um sich eine Verschnaufpause zu gönnen.
»So weit, so gut«, murmelte er. Der Plan hatte so einfach geklungen, als Tam ihn erläutert hatte, doch jetzt fragte Will sich, ob er vielleicht einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. »Dir bleibt keine Zeit zum Nachdenken« ,hatte Tam gesagt und mit dem Finger auf ihn gezeigt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Wenn du zögerst, verlierst du deinen Zeitvorteil und die ganze Sache platzt. «
Will wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich bereit für den nächsten Schritt.
Als er sich der Polizeiwache näherte, weckte der Anblick der Eingangstür Erinnerungen an den Tag, an dem man Chester und ihn die Stufen hinaufgezerrt hatte, und an die darauffolgenden entsetzlichen Verhöre. Eine Flut von Bildern stürzte auf ihn ein, und Will versuchte, sie beiseitezuschieben, während er in den Schatten des Gebäudes huschte und den Rucksack absetzte. Er holte seinen Fotoapparat hervor, überprüfte ihn kurz und schob ihn in die Jackentasche. Dann versteckte er den Rucksack, marschierte zum Eingang und stieg die Stufen hinauf. Oben angekommen, holte er kurz Luft und stieß die Tür auf.
Der ältere Polizist lehnte in einem Stuhl, die Füße auf der Theke. Behäbig schaute er in die Richtung des Besuchers; seine Bewegungen waren träge, als hätte er gerade ein Nickerchen gemacht. Er brauchte fast eine ganze Sekunde, bis er begriff, wer da vor ihm stand, und ein verwirrter Ausdruck breitete sich auf
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