Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Spaß.«
Will, Cal und Tam redeten bis tief in die Nacht, und als Will schließlich im Bett lag, bekam er kaum ein Auge zu.
In den frühen Morgenstunden, noch bevor sich irgendjemand im Haus rührte, stand Will auf, packte seinen Rucksack und steckte die Karte, die Tam ihm gegeben hatte, in den Schaft seiner Arbeitsschuhe. Er überprüfte noch einmal, ob sich die Luxsteine und die Leuchtkugel auch wirklich in seinen Jackentaschen befanden. Dann ging er zu Cal und schüttelte ihn vorsichtig aus dem Schlaf.
»Ich mach mich auf den Weg«, sagte Will mit leiser Stimme, als sein Bruder die Augen aufschlug.
Cal setzte sich auf und kratzte sich am Kopf.
»Danke für alles, Cal«, flüsterte Will, »und bestell Großmutter viele Grüße, machst du das?«
»Natürlich«, erwiderte sein Bruder. Dann runzelte er die Stirn. »Du weißt, dass ich alles dafür geben würde mitzukommen, oder?«
»Ich weiß, ich weiß … aber du hast ja gehört, was Tam gesagt hat – wenn ich allein bin, sind meine Fluchtchancen am größten. Außerdem ist deine Familie hier unten und nicht da oben«, sagte er entschlossen und wandte sich zur Tür.
Auf Zehenspitzen schlich Will die Treppe hinunter. Er war heilfroh, dass er sich endlich auf den Weg machen konnte, verspürte unerwarteterweise aber auch einen Anflug von Traurigkeit darüber, dass er fortging. Natürlich könnte er bleiben, hier, wo er hingehörte, statt sich ins Unbekannte zu wagen und alles zu riskieren. Es wäre ein Leichtes, einfach ins Bett zurückzukehren. Als er die Eingangshalle erreichte, hörte er Bartleby irgendwo in der Dunkelheit schnarchen – ein beruhigendes Geräusch, der Klang seines Zuhauses. Wenn er jetzt ging, würde er dieses Geräusch nie mehr zu hören bekommen. Er blieb vor der Haustür stehen und zögerte. Nein! Wie könnte er sich jemals wieder in die Augen schauen, wenn er beschloss, Chester den Styx zu überlassen? Lieber würde er sterben bei dem Versuch, seinen Freund zu befreien! Will holte tief Luft, warf noch einmal einen kurzen Blick in das stille Haus und schob den schweren Türriegel beiseite. Dann öffnete er die Tür, trat hinaus und zog die Tür leise hinter sich zu. Er stand im Freien.
Will wusste, dass er eine ziemliche Strecke zurücklegen musste, also schlug er ein schnelleres Tempo an, wobei der Rucksack im Rhythmus seiner Schritte gegen seinen Rücken hüpfte. Nach nicht einmal vierzig Minuten erreichte er das Gebäude am Rande der Höhle, von dem Tam ihm erzählt hatte. Ein Irrtum war ausgeschlossen, weil das Gehöft im Gegensatz zu den anderen Bauten mit den Steindächern ein Ziegeldach besaß.
Er befand sich nun auf der Straße, die zum Schädeltor führte. Tam hatte ihm eingeschärft, auf der Hut zu sein, da die Styx die Wachen in unregelmäßigen Abständen ablösen ließen und man nie wusste, ob nicht gerade ein Wärter um die nächste Ecke bog.
Will wandte sich von der Straße ab, kletterte über das Tor und sprintete durch den Innenhof, der vor dem verkommenen Gehöft lag. Er hörte ein schweineartiges Grunzen aus einem der Nebengebäude und sah mehrere Hühner in einem anderen Stall. Die Tiere waren spindeldürr und schlecht ernährt, besaßen aber schneeweißes Gefieder.
Rasch schlüpfte er in das Gebäude mit dem Ziegeldach und entdeckte die alten Holzbalken, die gegen eine Wand lehnten – genau wie Tam es beschrieben hatte. Als er unter die Balken kroch, bewegte sich plötzlich etwas auf ihn zu.
»Was …?«
Es war Tam, der sofort einen Finger auf die Lippen legte, damit Will schwieg. Der Junge konnte seine Überraschung kaum verbergen; fragend schaute er Tam an. Doch das Gesicht seines Onkels wirkte finster und ernst.
Unter den Balken war nur wenig Platz, und Tam kauerte in einer unbequemen Haltung, während er eine massive Steinplatte an der Wand verrückte. Dann beugte er sich zu Will vor.
»Viel Glück«, flüsterte er ihm ins Ohr, schob ihn förmlich in die klaffende Öffnung und rückte die Steinplatte wieder an Ort und Stelle. Will war erneut auf sich allein gestellt.
In der völligen Dunkelheit tastete er in seiner Jackentasche nach der Leuchtkugel, an der er bereits eine Kordel befestigt hatte. Auf diese Weise konnte er sich die Kugel um den Hals hängen und hatte nun beide Hände frei. Der Eingangsbereich des Tunnels erlaubte ihm ein zügiges Vorankommen, doch nach etwa neun oder zehn Metern wurde der Durchgang immer niedriger, bis Will schließlich auf Händen und Füßen vorwärtskriechen
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