Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
sich so großartig an, dass er die Vorhänge weiter öffnete.
»Zu hell!«, kreischte Cal in dem Moment und vergrub das Gesicht in einem Sofakissen. Bartleby, der von Cals Schreien aufgeweckt worden war, riss die Augen auf und wich sofort vor dem grellen Licht zurück, bis er rücklings vom Sofa stürzte. Dort blieb er liegen und versuchte, sich vor der Sonne zu verstecken, begleitet von seltsamen Geräuschen, irgendetwas zwischen einem Fauchen und einem tiefen Miauen.
»Oh Gott, tut mir leid«, stammelte Will und zerrte die Vorhänge hastig wieder zu. »Das hab ich total vergessen.«
Er half seinem Bruder in eine aufrechte Sitzposition. Cal stöhnte leise hinter seinem Kissen, und Will konnte erkennen, dass seine Tränen den Bezug bereits durchnässt hatten. Er fragte sich, ob Cals und Bartlebys Augen sich jemals an das Tageslicht gewöhnen würden – ein weiteres Problem, mit dem Will sich auseinandersetzen musste.
»Das war so dämlich von mir«, sagte er hilflos. »Ich … äh … ich schau mal nach, ob ich für euch ein paar Sonnenbrillen auftreiben kann.«
Will begann mit der Suche im Schlafzimmer seiner Eltern, musste aber feststellen, dass die Kommode leer geräumt war. Als er die unterste Schublade aufzog, entdeckte er ein kleines Lavendelsäckchen, das auf dem billigen Geschenkpapier lag, welches seine Mutter immer zum Auslegen der Schränke verwendet hatte. Er nahm das Säckchen heraus und schnupperte daran. Als er den vertrauten Geruch wahrnahm, schloss er die Augen und sah seine Mutter förmlich vor sich. Ganz egal, wohin man sie zur Erholung geschickt hatte – inzwischen hatte sie bestimmt die Herrschaft über die anderen Patienten übernommen. Will ging jede Wette darauf ein, dass sie längst den besten Platz im Fernsehzimmer erobert und jemanden beschwatzt hatte, ihr regelmäßig eine Tasse Tee zu bringen. Will musste lächeln. Wahrscheinlich war sie auf ihre Art dort glücklicher als in den Jahren zuvor – und vielleicht auch ein wenig sicherer, falls die Styx beschlossen, ihr einen Besuch abzustatten.
Während er in einem Nachttischschränkchen wühlte, musste er plötzlich an seine leibliche Mutter denken. Er fragte sich, wo sie wohl in diesem Moment war – falls sie überhaupt noch lebte. Der einzige Mensch in der langen Geschichte der Kolonisten, dem es gelungen war, den Styx zu entkommen und am Leben zu bleiben. Will setzte eine entschlossene Miene auf, als er sein Abbild im Spiegel sah: Dann würde es eben bald zwei weitere Jeromes geben, die das von sich behaupten konnten.
Auf dem obersten Regal im Kleiderschrank seiner Mutter fand er, wonach er suchte – eine Kunststoffsonnenbrille mit flexiblen Bügeln, die sie im Sommer getragen hatte, wenn sie gelegentlich das Haus verließ. Will ging wieder hinunter zu Cal, der im abgedunkelten Wohnzimmer vor dem Fernseher hockte und fasziniert eine der Vormittags-Talkshows schaute. Der sonnenbankgebräunte, servile und Seriosität verströmende Moderator tröstete gerade die untröstliche Mutter eines jugendlichen Drogenabhängigen. Cals Augen waren leicht gerötet und tränten noch immer, aber er beklagte sich nicht mehr. Er wandte nicht einmal den Blick von der Mattscheibe, als Will ihm die Sonnenbrille aufsetzte und die Bügel mithilfe eines Gummibandes fest an seinen Kopf drückte.
»Besser?«, fragte Will.
»Ja, viel besser«, sagte Cal und rückte sich die Brille zurecht. »Aber jetzt habe ich echt Hunger«, fügte er hinzu und rieb sich den Bauch. »Und mir ist kalt.« Er klapperte übertrieben mit den Zähnen.
»Zuerst mal duschen, schlage ich vor. Das wärmt dich wieder auf«, sagte Will. Prüfend roch er an seinem Ärmel; die vielen Tage mit den starken Schweißausbrüchen hatten ihre Spuren hinterlassen. »Außerdem brauchen wir frische Sachen.«
»Duschen?« Cal starrte ihn durch die Gläser seiner Sonnenbrille fragend an.
Will schaffte es, den Gasboiler in Gang zu setzen, und marschierte als Erster unter die Dusche. Das heiße Wasser prickelte auf seiner Haut, während die Dampfschwaden ihn in ein wohliges Gefühl heiterer Gelassenheit hüllten. Dann war Cal an der Reihe. Will zeigte seinem fasziniert zuschauenden Bruder, wie die Mischbatterie funktionierte, und ließ ihn dann im Bad allein. Aus dem Kleiderschrank in seinem Zimmer zog Will frische Sachen für sich und Cal hervor, obwohl er an der Kleidung für seinen Bruder noch ein paar Veränderungen vornehmen musste, damit sie passte.
»Wow, jetzt bin ich ein richtiger
Weitere Kostenlose Bücher