Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Ihnen von bestimmten Mitgliedern Ihrer Familie in grauer und jüngster Vergangenheit angetan wurde, unbillig und bedauerlich ist. Ihre Ehrlichkeit steht außer Frage und Ihr Ruf wurde nicht befleckt. Sie sind hiermit vorbehaltlos entlastet und können gehen, falls Sie nicht noch etwas sagen möchten.«
Mr Jerome verbeugte sich trübselig und ging einen Schritt zurück. Dann hörte Tam, wie seine Schuhe über die Steinplatten schlurften. Doch er wagte es nicht, sich umzudrehen und ihm nachzusehen, wie er den Saal verließ. Stattdessen wanderte sein Blick zur Decke der Steinhalle hinauf, dann zu den alten Wandteppichen hinter dem Tribunal und blieb schließlich an einem Bildnis hängen, das die Gründungsväter zeigte, die einen perfekt runden Tunnel in die Flanke eines grünen Hügels gruben.
Tam wusste, dass nun alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Ein dritter Styx ergriff das Wort. Tam erkannte die Stimme der Schmeißfliege sofort und war gezwungen, seinem erklärten Feind ins Gesicht zu schauen. Er genießt jede Minute dieses Spektakels, dachte Tam.
»Macaulay. Bei Ihnen sieht die Sache ganz anders aus. Obwohl bisher noch keine Beweise vorliegen, sind wir der Überzeugung, dass Sie Ihren beiden Neffen, Seth und Caleb Jerome, Beihilfe geleistet haben: zum einen bei ihrem vereitelten Versuch, dem Übergrundler Chester Rawls zur Flucht zu verhelfen, und zum anderen bei ihren Plänen, in die Ewige Stadt zu fliehen«, sagte die Schmeißfliege mit hämischer Stimme.
Ein anderer Styx fuhr fort: »Das Tribunal hat Ihre Unschuldsbeteuerungen und anhaltenden Proteste zur Kenntnis genommen.« Dann schüttelte er kurz missbilligend den Kopf und schwieg einen Moment. »Wir haben die Beweismittel gesichtet, die zu Ihrer Verteidigung vorgelegt wurden, sehen uns aber zu diesem Zeitpunkt außerstande, zu einem Beschluss zu kommen. Demzufolge verfügen wir, dass die Ermittlungen fortgesetzt werden, dass Sie in Untersuchungshaft verbleiben werden und dass Ihnen Ihre Privilegien bis auf Weiteres entzogen werden. Haben Sie das verstanden?«
Tam nickte düster.
»Sie wurden gefragt, ob Sie das verstanden haben!«, fauchte das Styx-Kind und trat einen Schritt vor.
Ein boshaftes Grinsen huschte über Rebeccas Gesicht, während sich ihr eisiger Blick in Tams Augen bohrte. In den Reihen der Kolonisten erhob sich erstauntes Geflüster darüber, dass die Minderjährige es gewagt hatte, etwas zu sagen. Aber bei den Styx deutete nicht das geringste Zeichen darauf hin, dass etwas Ungewöhnliches stattgefunden hatte.
Tam war vollkommen sprachlos vor Überraschung. Erwartete man wirklich von ihm, dass er diesem Kind antwortete? Als er nicht sofort reagierte, wiederholte Rebecca ihre Frage, wobei ihre harte, kleine Stimme wie eine Peitsche knallte.
»HABEN SIE DAS VERSTANDEN?«
»Ja«, murmelte Tam, »nur allzu gut.«
Natürlich handelte es sich bei der Verfügung nicht um einen endgültigen Urteilsspruch, doch sie bedeutete, dass er im Gefängnis bleiben und in diesem Schwebezustand verharren musste, bis die Styx ihn entweder für unschuldig erklärten oder … Nein, an die Alternative wollte er lieber gar nicht denken.
Als ein mürrischer Kolonialpolizist ihn aus dem Raum führte, fing Tam einen selbstgefälligen Blickwechsel zwischen Rebecca und der Schmeißfliege auf.
»Sieh mal einer an!«, dachte Tam. »Das Kind ist seine Tochter!«
Als der Fernseher mit voller Lautstärke losdröhnte, fuhr Will erschrocken aus dem Schlaf hoch. Verwirrt richtete er sich in seinem Sessel auf und griff automatisch nach der Fernbedienung, um das Gerät leiser zu stellen. Er schaute sich um und begriff erst in dem Moment, wo er sich befand: Er war zu Hause, in einem Raum, der ihm vollkommen vertraut war. Obwohl er überhaupt nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte, hatte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, sein Schicksal in gewissem Rahmen selbst bestimmen zu können – und das war ein verdammt gutes Gefühl.
Er reckte die steifen Glieder, holte tief Luft und bekam einen fürchterlichen Hustenanfall. Obwohl ihm der Magen knurrte, fühlte er sich etwas besser als am Tag zuvor; der Schlaf hatte ihm gutgetan. Er kratzte sich und fuhr sich durch das verfilzte Haar, dessen schimmerndes Weiß von Dreck und Staub ergraut war. Nachdem er sich aus dem Sessel gehievt hatte, ging er träge zu den Vorhängen und zog sie ein paar Zentimeter auseinander, um die Morgensonne hereinzulassen. Richtiges Licht. Die Sonnenstrahlen fühlten
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