Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Schlussstein fehlte.
»Gott sei Dank«, flüsterte Will und schaute Cal erleichtert an. »Das war knapp.«
Cal nickte lediglich und schnappte heftig nach Luft. Rasch warfen sie noch einen Blick hinter sich und zwängten sich dann durch den verfallenen Torbogen.
Im nächsten Moment wurden sie auf beiden Seiten des Durchgangs blitzschnell von starken Händen gepackt und in die Luft gewirbelt.
36
Unter Aufbietung all seiner Kräfte schlug Will mit seinem gesunden Arm wie wild um sich. Doch seine Knöchel glitten wirkungslos von einer Segeltuchhaube ab. Als Will zu einem weiteren Schlag ausholte, fluchte der Mann ungehalten. Dieses Mal wurde Wills Faust gepackt und im eisernen Griff einer riesigen Hand gefangen, die ihn mühelos zurückstieß und gegen die Mauer drückte.
»Das reicht!«, zischte der Mann. »Psst!«
Schlagartig erkannte Cal die Stimme und schob sich zwischen Will und seinen maskierten Angreifer. Will war total verwirrt. Was machte sein Bruder da? Eher halbherzig wollte er erneut ausholen, doch der Mann hielt ihn fest.
»Onkel Tam!«, rief Cal freudig.
»Sei leise«, stieß Tam flüsternd hervor.
»Tam?«, wiederholte Will, der sich nun ziemlich dumm vorkam und zugleich sehr erleichtert war.
»Aber … wie … woher wusstest du, dass wir hier …?«, stotterte Cal.
»Seit die Flucht missglückt ist, haben wir nach euch Ausschau gehalten«, erklärte sein Onkel.
»Ja, aber woher wusstest du, dass wir es sind und nicht jemand anderes?«, fragte Cal erneut.
»Wir sind nur dem Licht und dem Lärm gefolgt. Wer sonst, wenn nicht ihr, hätte so ein verdammtes Feuerwerk angezündet? Wahrscheinlich war der Krach bis nach Übergrund zu hören, von der Kolonie ganz zu schweigen.«
»Das war Wills Idee«, erwiderte Cal. »Hat ja auch irgendwie funktioniert.«
»Ja, irgendwie«, sagte Tam und musterte Will besorgt, der Halt suchend gegen eine Mauer lehnte. Das Gummi seiner Maske wies tiefe Furchen auf, und eines seiner Augengläser war zerborsten. »Alles in Ordnung mit dir, Will?«
»Ich glaube schon«, murmelte der Junge und hielt sich dabei die blutüberströmte Schulter. Er fühlte sich ein wenig benommen und schwindlig, konnte aber nicht sagen, ob dies an seinen Verletzungen lag oder an der überwältigenden Erleichterung darüber, dass Tam sie gefunden hatte.
»Ich wusste, dass du keine Ruhe geben würdest, solange Chester hier ist.«
»Was ist mit ihm passiert? Geht es ihm gut?«, fragte Will, der bei der Erwähnung seines Freundes wieder auflebte.
»Er lebt, zumindest im Moment – ich erzähl’s dir später. Aber jetzt machen wir uns lieber aus dem Staub. Alles klar, Imago?«
Mit unerwarteter Schnelligkeit schob sich Imagos massige Gestalt aus dem Nebel. Seine zu weite Maske, die aussah wie ein vom Wind erfasster geschrumpfter Luftballon, drehte sich verstohlen erst in die eine, dann in die andere Richtung, während er mit prüfendem Blick die düsteren Schatten musterte. Er schwang sich Wills Rucksack über die Schulter, als wöge er gar nichts, und war im nächsten Moment verschwunden. Den Jungen blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Nun verwandelte sich ihre Flucht in eine nervenaufreibende Partie Fährmann-Fährmann-wie-tief-ist-das-Wasser, bei der Imagos Schatten ihnen jede Bewegung vorgab und sie über stinkende Gräben und im Nebel verborgene Hindernisse lotste, während Tam die Nachhut bildete. Die Jungen waren so dankbar, wieder unter Tams Fittichen zu sein, dass sie ihre katastrophale Lage fast vergaßen – sie fühlten sich wieder sicher.
Imago hielt eine Leuchtkugel in der hohlen Hand und ließ gerade genug Licht zwischen seinen Fingern hindurchscheinen, dass sie das schwierige Gelände bewältigen konnten. Sie liefen durch eine Reihe feuchter Hinterhöfe und schließlich in ein kreisrundes Gebäude. Hastig rannten sie die Gänge entlang, die mit Statuen und verblassten Wandgemälden dekoriert waren, dann durch verlassene Zimmer und Räume, in denen herabstürzendes Mauerwerk die Marmorböden stark beschädigt hatte, bis sie endlich eine Treppe aus schwarzen Granitstufen erreichten und diese hinaufstürzten. Am oberen Absatz angekommen, standen sie plötzlich wieder im Freien. Während sie mehrere brüchige Laufstege zwischen den alten Bauwerken überquerten, deren Balustraden größtenteils fehlten, schaute Will aus schwindelnder Höhe hinab in die Tiefe. Durch die wogenden Nebelschwaden konnte er immer wieder kurz auf die unter ihnen liegende Stadt blicken.
Weitere Kostenlose Bücher