Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Einige der Verbindungsstege waren so schmal, dass Will befürchtete, beim kleinsten Fehltritt in den sicheren Tod zu stürzen. Doch er zwang sich weiterzugehen und vertraute dabei auf Imago, der keinen Moment zögerte, unbeirrt vorwärtslief und dabei kleine Nebelwölkchen hinter sich ließ.
Nachdem sie mehrere Treppen hinuntergeeilt waren, gelangten sie schließlich in einen großen Raum, in dem man den gurgelnden Widerhall von Wasser hörte. Imago blieb ruckartig stehen. Offenbar lauschte er angestrengt.
»Wo ist Bartleby?«, wandte Tam sich leise an Cal, während sie warteten.
»Er hat uns vor einem Spürhund gerettet«, erwiderte Cal kläglich und ließ den Kopf hängen. »Aber er ist uns nicht gefolgt. Ich glaube, er ist tot.«
Tam nahm Cal in die Arme und drückte ihn an sich. »Er war wirklich etwas ganz Besonderes«, sagte er und klopfte Cal tröstend auf den Rücken. Dann ging er nach vorn und besprach sich mit gedämpfter Stimme mit Imago. »Meinst du, wir sollten uns eine Weile versteckt halten?«
»Nein, wir müssen hier weg.« Imagos Stimme klang ruhig und gelassen. »Die Division weiß, dass die Jungen noch irgendwo in der Stadt sind, und bald wird es hier vor Patrouillen nur so wimmeln.«
»Dann gehen wir weiter«, pflichtete Tam ihm bei.
Die vier marschierten hintereinander aus dem Raum und liefen einen Säulengang entlang, bis Imago sich über eine niedrige Mauer schwang und eine glitschige Böschung in einen tiefen Graben hinabrutschte. Als die Jungen ihm folgten, reichte ihnen das Wasser bald bis an die Oberschenkel, und träge schwarze Algenwedel behinderten ihre Bewegungen. Mühsam wateten sie durch die dunkle Brühe, aus der dicke Blasen aufstiegen und sich an der Oberfläche zu Schaum zusammenballten. Obwohl sie Masken trugen, brannte ihnen der stechende Geruch längst verfaulter Vegetation in der Kehle. Nach einer Weile verwandelte sich der Wassergraben in einen unterirdischen Kanal, und sie tauchten in die Dunkelheit ein, wobei ihr Platschen von den Wänden hallte, bis sie nach einer schieren Ewigkeit wieder ins Freie hinaustraten. Imago bedeutete ihnen, stehen zu bleiben, lief dann an der Seite des Kanals entlang und eilte mit quatschenden Schritten in den Nebel hinein.
»Jetzt wird es gefährlich«, flüsterte Tam eindringlich. »Hier ist offenes Feld. Ihr müsst jetzt besonders auf der Hut sein und dicht zusammenbleiben.«
Es dauerte nicht lange, bis Imago zurückkehrte und ihnen ein Zeichen gab. Leise kletterten sie aus dem Wasser und überquerten mit durchnässten Schuhen und Hosen das Marschland. Die Stadt lag nun endlich hinter ihnen. Sie erklommen einen Hügel und gelangten danach auf eine Art Hochebene. Wills Stimmung stieg sprungartig, als er die Öffnungen in der Höhlenwand vor ihnen entdeckte und wusste, dass sie einen Rückweg in das Labyrinth gefunden hatten. Sie hatten es geschafft.
»Macaulay!«, rief in diesem Augenblick eine schrille, dünne Stimme.
Wie angewurzelt blieben die Flüchtenden stehen und fuhren herum. Hier, auf dem höher gelegenen Terrain, wies der Nebel Lücken auf, und durch die sich lichtenden Schwaden sahen sie eine einzelne Gestalt – ein Styx. Er stand da, hochgewachsen und arrogant, die Arme vor der schmalen Brust verschränkt.
»So, so. Schon lustig, dass Ratten immer wieder dieselben Wege benutzen …«, rief er.
»Schmeißfliege«, konstatierte Tam kaltblütig, während er Cal und Will zu Imago schob.
»… und ihren Dreck und ihre stinkende Fährte zurücklassen. Ich wusste, dass ich dich eines Tages erwischen würde; es war nur eine Frage der Zeit.« Die Schmeißfliege löste die verschränkten Arme und ließ sie peitschenartig nach vorn schnellen. Wills Herz setzte einen Augenblick aus, als er zwei Klingen in den Händen des Styx aufblitzen sah. Die gekrümmten, etwa fünfzehn Zentimeter langen Stichwaffen sahen aus wie kleine Sicheln.
»Du bist mir schon viel zu lange ein Dorn im Auge«, schrie die Schmeißfliege.
Will warf einen Blick auf Tam und stellte zu seiner Überraschung fest, dass dieser bereits eine Waffe gezogen hatte – eine Furcht einflößende Machete, die er scheinbar aus dem Nichts herbeigezaubert hatte.
»Es wird Zeit, dass ich ein paar Dinge kläre«, wandte Tam sich in leisem, nachdrücklichem Ton an Imago und die Jungen, die eine grimmige Entschlossenheit in seinem Gesicht erkannten. »Geht schon mal vor, ich komme später nach«, fuhr er fort und marschierte entschlossen auf den Styx zu.
Doch die finstere
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