Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
hatte.
Wills Eltern hatten sich an der Universität kennengelernt, als Mrs Burrows noch eine temperamentvolle Studentin der Medienwissenschaften gewesen war, die unbedingt Karriere beim Fernsehen machen wollte.
Bedauerlicherweise füllte dieses Medium ihre Tage inzwischen in ganz anderer Weise. Sie sah mit fanatischer Hingabe fern und jonglierte mit den Fernbedienungen mehrerer Videorekorder, wenn zwei ihrer zahlreichen Lieblingssendungen sich zeitlich überschnitten.
Falls es so etwas wie einen »Charakter-Schnappschuss« eines Menschen gibt, ein Bild, das einem beim Erwähnen des Namens als erstes durch den Kopf schießt, dann sah dieses Bild bei Mrs Burrow folgendermaßen aus: seitlich in ihren Lieblingssessel gegossen, die diversen Fernbedienungen sorgfältig auf der Armlehne aufgereiht, die Füße auf einem Schemel und umgeben von herausgerissenen Programmhinweisen aus der Tageszeitung. Dort saß sie, Tag für Tag, Woche für Woche, inmitten von gefährlich schwankenden Stapeln von Videobändern und wie erstarrt im flackernden Licht des Fernsehbildschirms. Gelegentlich zuckte eines ihrer Beine, was den Menschen in ihrer Umgebung anzeigte, dass sie noch lebte. Das Wohnzimmer, ihr ganz persönliches Reich, war mit Möbelstücken ausgestattet, die schon bessere Zeiten gesehen hatten: eine Ansammlung unterschiedlicher Holzstühle in Violett- und Türkistönen, zwei ungleiche Sessel mit verblassten, einst dunkelblauen Hussen sowie ein Sofa mit zerschlissenen Armlehnen – allesamt Möbelstücke, die sie und Dr. Burrows im Laufe der Jahre geerbt hatten.
Wie jeden Abend war Will direkt in die Küche oder, um genauer zu sein, zum Kühlschrank gestürmt. Während er die Tür öffnete, redete er mit der anderen Person im Raum, ohne sie jedoch eines Blickes zu würdigen.
»Hi, Schwesterherz«, sagte er. »Was gibt’s heute zu essen? Ich sterbe vor Hunger.«
»Ah, die Rückkehr des Schlammmonsters«, erwiderte Rebecca. »Ich dachte mir schon, dass du jeden Moment hier auftauchen würdest.« Sie schlug die Kühlschranktür zu, damit ihr Bruder nicht darin herumschnüffeln konnte, und drückte ihm eine leere Verpackung in die Hand, ehe er sich beschwerte. »Hühnchen süßsauer, mit Reis und irgendwelchem Gemüse. War ein Sonderangebot im Supermarkt.«
Will betrachtete die Abbildung auf der Verpackung und reichte sie ihr kommentarlos zurück.
»Und, was machen deine jüngsten Ausgrabungen?«, fragte sie, als die Mikrowelle Ping machte.
»Geht so – wir sind auf eine Schicht Sandstein gestoßen.«
»Wir?« Rebecca warf ihm einen fragenden Blick zu, während sie das Gericht aus der Mikrowelle nahm. »Ich könnte schwören, du hast gerade ›wir‹ gesagt, Will. Du willst damit doch nicht behaupten, dass Dad mit dir zusammenarbeitet? Doch nicht während der Öffnungszeiten des Museums, oder?«
»Nein, Chester aus meiner Klasse hilft mir ein wenig.«
Rebecca hatte das zweite Gericht in die Mikrowelle gestellt und klemmte sich fast die Finger ein, als sie die Tür des Geräts schloss. »Soll das heißen, dass du tatsächlich jemanden um Hilfe gebeten hast? Na, das wäre ja mal ganz was Neues. Ich dachte, du würdest niemandem trauen, sobald es um deine ›Projekte‹ geht?«
»Nein, normalerweise nicht, aber Chester ist cool«, erwiderte Will, ein wenig erstaunt über das Interesse seiner Schwester. »Er hat mir echt geholfen.«
»Ich kenne ihn nicht besonders gut; ich weiß nur, wie die anderen ihn nennen, nämlich …«
»Ich weiß, wie sie ihn nennen«, unterbrach Will sie mit scharfer Stimme.
Mit ihren zwölf Jahren war Rebecca nur zwei Jahre jünger als Will, aber die Geschwister hätten nicht unterschiedlicher sein können: Für ihr Alter ziemlich dünn und zierlich, wirkte sie vollkommen anders als ihr eher kräftig gebauter Bruder. Und mit ihren dunklen Haaren und der blass getönten Gesichtsfarbe musste sie sich nicht vor der Sonne fürchten, nicht einmal im Sommer, während Wills Haut sich innerhalb weniger Minuten rötete und verbrannte.
Da sich die beiden Geschwister nicht nur äußerlich, sondern auch vom Temperament her vollkommen voneinander unterschieden, erinnerte ihr Umgang miteinander an eine Art widerwillige Waffenruhe; und für die Freizeitbeschäftigungen des anderen zeigten sie nur flüchtiges Interesse.
Familienausflüge verliefen nicht so, wie man es vielleicht erwartet hätte, weil auch Dr. Burrows und seine Frau völlig verschiedene Neigungen hatten. So unternahm Will mit seinem
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