Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
Gesicht ihres Bruders, der sich gegen die Anrichte lehnte und den Brief laut vorlas. Das Schreiben stammte vom physikwissenschaftlichen Fachbereich des University College.
Lieber Roger,
es war schön, nach all den Jahren wieder von dir zu hören – dein Brief hat viele tolle Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit an der Universität geweckt. Und ich freue mich, dass es dir und deiner Familie gut geht – Steph und ich würden euch bei Gelegenheit gerne mal besuchen.
Was das Objekt anbelangt, muss ich mich erst einmal dafür entschuldigen, dass ich mir so viel Zeit mit meiner Antwort gelassen habe. Aber ich wollte warten, bis ich alle relevanten Informationen von meinen Kollegen zusammengetragen hatte. Um es kurz zu machen: Wir sind alle vollkommen am Ende mit unserer Weisheit.
Auf deine Bitte hin haben wir die Glasfassung der Kugel nicht geöffnet, sondern sämtliche Untersuchungen auf nichtinvasive Weise durchgeführt. Hinsichtlich einer eventuellen Radioaktivität konnten keine schädlichen Emissionen festgestellt werden – zumindest dahingehend kann ich dich also beruhigen.
Ein Metallurg hat anhand einer mikroskopisch kleinen Probe vom Fuß der Metallfassung eine Massenspektrometrie durchgeführt und stimmt mit dir überein, dass das Objekt aus der georgianischen Epoche stammt. Er denkt, dass die Fassung aus sogenanntem »Pinchbeck« gefertigt wurde – eine von Christopher Pinchbeck (1670-1732) erfundene Legierung aus Kupfer und Zink, die als Ersatz für Gold diente und nur während einer kurzen Zeit hergestellt wurde. Anscheinend ging die Formel für diese Legierung verloren, als der Sohn des Erfinders, Edward, verstarb. Mein Kollege erzählte mir außerdem, dass echte Proben dieses Materials äußerst selten sind und es nur wenige Experten gibt, die eine eindeutige Bestimmung vornehmen können. Leider hatte ich bisher noch nicht die Gelegenheit, eine Radiokohlenstoffanalyse durchführen zu lassen, um das genaue Alter festzustellen – vielleicht beim nächsten Mal?
Ein besonders interessantes Ergebnis lieferte die Röntgenuntersuchung: Im Zentrum der Kugel schwebt ein kleines Partikel, das seine Lage auch dann nicht verändert, wenn man die Kugel heftig schüttelt – was gelinde gesagt ziemlich verwirrend ist. Des Weiteren sind wir aufgrund einer physikalischen Analyse zu demselben Schluss gekommen wie du: Die Kugel ist anscheinend mit zwei flüssigen Komponenten unterschiedlicher Dichte gefüllt. Die von dir beobachteten Turbulenzen innerhalb dieser Komponenten hängen nicht mit Temperaturunterschieden – weder äußeren noch inneren – zusammen, sondern basieren auf einer lichtinduzierten Reaktion. Allerdings scheinen die Komponenten auf einen Mangel an Licht zu reagieren!
Aber jetzt kommt der Haken: Die Jungs vom Fachbereich Chemie haben so etwas noch nie gesehen. Ich hatte wirklich alle Hände voll zu tun, das Objekt von ihnen zurückzubekommen. Am liebsten hätten sie es sofort unter kontrollierten Bedingungen geöffnet und eine vollständige Analyse durchgeführt. Sie haben eine Spektroskopie vorgenommen, als die Kugel am stärksten leuchtete (bei maximaler Stimulierung liegen ihre Emissionen im sichtbaren Bereich des Spektrums – mit anderen Worten: nicht weit vom Tageslicht entfernt, mit einem unter Sicherheitsaspekten vertretbaren UV-Anteil). Die Analyse hat ergeben, dass es sich bei den »Flüssigkeiten« wohl um Komponenten handelt, die vorrangig aus Helium und Silber bestehen. Genaueres können wir aber erst dann sagen, wenn du uns erlaubst, die Kugel zu öffnen. Unsere Hypothesis lautet, dass das massive Partikel im Zentrum der Kugel als eine Art Katalysator für eine Reaktion dienen könnte, die durch einen Mangel an Licht ausgelöst wird. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir uns den Vorgang allerdings nicht erklären und wüssten auch von keiner vergleichbaren Reaktion, die nach einem solch langen Zeitraum auftreten würde – wenn wir davon ausgehen, dass die Kugel tatsächlich aus der georgianischen Epoche stammt. Denn wie du dich sicher erinnerst, wurde Helium erst 1895 entdeckt – was jedoch unserer Schätzung zur Bestimmung des Alters der Metallfassung widersprechen würde.
Um es kurz zu machen: Wir stehen vor einem absoluten Rätsel. Daher würden wir alle es sehr begrüßen, wenn du zu einem fakultätsübergreifenden Treffen kommen könntest, damit wir eine weitere Vorgehensweise zur Analyse des Objekts besprechen. Vielleicht könnten ein oder zwei Kollegen ja auch kurz
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