Tunnel - 02 - Abgrund
Lärm sei lauter als üblich, hatte Rebecca ihr mitgeteilt, weil der Zug mit doppelter Geschwindigkeit in Richtung der Tiefen raste.
Stattdessen betrachtete Sarah einen ziemlich alt und abgenutzt wirkenden braunen Schulranzen auf dem Tisch vor Rebecca. Auf einer Seite ragte ein dickes Bündel zusammengerollter Übergrund-Zeitungen heraus, und Sarah konnte die dramatische Schlagzeile am Rand des obersten Blattes entziffern: Ultra-Erreger schlägt zu. Da Sarah seit mehreren Wochen keinen Kontakt zur Erdoberfläche gehabt hatte, konnte sie mit dieser Nachricht überhaupt nichts anfangen. Trotzdem grübelte sie viele Stunden darüber nach, inwiefern diese Nachricht für Rebecca und die Styx von Bedeutung sein konnte. Und es juckte sie in den Fingern, die Zeitungen aus der Tasche zu ziehen und mehr darüber zu lesen.
Doch während der gesamten Zugfahrt hatte Rebecca nicht ein einziges Mal die Augen geschlossen. Sie saß die ganze Zeit reglos da, den Rücken gegen die Seitenwand des Dienstwagens gelehnt und die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. Es schien, als befände sie sich in einem tiefen meditativen Bewusstseinszustand – für Sarah ein mehr als beunruhigender Gedanke.
Erst als der Zug seine Fahrt verringerte und schließlich ganz stehen blieb, kam es zu einem kurzen Gespräch zwischen Sarah und dem Styx-Mädchen.
Als würde Rebecca ruckartig aus ihrem seltsamen Dämmerzustand auftauchen, beugte sie sich plötzlich zu Sarah vor. »Sturmtore«, sagte sie kurz und bündig, zog dann die Zeitungen aus ihrer Tasche und blätterte darin.
Sarah nickte, erwiderte aber nichts, da in diesem Moment vom Kopf des Zugs ein metallisches Klirren zu ihnen drang. Die Grenzer setzten sich auf und einer von ihnen ließ Essgeschirr mit luftgetrockneten Fleischstreifen und zerbeulte, weiße Emaille-Becher mit Wasser herumgehen. Sarah nahm ihre Ration entgegen und bedankte sich bei dem Mann und dann aßen sie schweigend, während der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzte. Doch er hatte erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als er erneut quietschend zum Stehen kam und die Sturmtore mit einem lauten Dröhnen zugeworfen wurden.
Rebecca las aufmerksam ihre Zeitung.
»Worum geht’s da?«, fragte Sarah und warf einen Blick auf die Schlagzeile: PANDEMIE – JETZT IST ES OFFIZIELL! »Sind das aktuelle Ausgaben?«
»Ja. Ich habe sie heute Morgen von Übergrund mitgebracht.« Rebecca schaute kurz in Richtung Himmel und schlug dann die Zeitung zusammen. »Ach, ich Dummerchen! Ich vergesse doch immer wieder, dass du dich in London auskennst. Diese Zeitungen habe ich nur einen Steinwurf vom St.-Edmunds-Hospital entfernt gekauft – davon hast du doch schon mal gehört, oder?«
»Das Krankenhaus … in Hampstead«, bestätigte Sarah.
»Genau das«, sagte Rebecca. »Junge, Junge, du hättest das wilde Gerangel vor der Notaufnahme sehen sollen. Da oben herrschen chaotische Zustände – die Schlange erstreckte sich fast eine Meile lang.« Das Mädchen schüttelte theatralisch den Kopf, hielt dann inne und grinste wie eine Katze, die gerade ein Fässchen feinste Sahne verspeist hatte.
»Ach, wirklich?«, sagte Sarah.
Rebecca kicherte leise in sich hinein. »Die gesamte Stadt ist gelähmt.«
Sarah schaute das Mädchen entsetzt an, als sie die Zeitung wieder ausbreitete und weiterlas.
Aber das konnte unmöglich stimmen!
Rebecca hatte den ganzen Vormittag in der Garnison verbracht und Reisevorbereitungen getroffen. Sarah hatte sie ein paarmal kurz gesehen und ihre Stimme mehrfach durch den Korridor hallen gehört – das Mädchen konnte das Gebäude nicht länger als eine Stunde am Stück verlassen haben. Innerhalb dieser Zeit hätte sie es auf keinen Fall bis nach Highfield und zurück geschafft, von Hampstead ganz zu schweigen. Rebecca musste lügen. Aber warum? Spielte das Mädchen vielleicht mit ihr, um herauszufinden, wie sie reagieren würde, oder wollte sie nur ihre Autorität demonstrieren, ihre Macht über sie? Sarah war von diesen Gedanken derart verwirrt, dass sie keine weiteren Fragen zu den Zeitungsartikeln stellte.
Ehe der Zug seine Reise fortsetzte, legte Rebecca die Zeitungen beiseite, nahm einen letzten Schluck aus ihrem Becher und bückte sich, um ein langes, in Sackleinen gehülltes Bündel unter ihrer Bank hervorzuziehen. Sie hielt es Sarah entgegen, die es zögernd annahm und auswickelte. Unter dem Tuch kam eines der langen Grenzergewehre zum Vorschein, inklusive Nachtsichtgerät. Sarah hatte in der Garnison
Weitere Kostenlose Bücher