Tunnel - 02 - Abgrund
ebenfalls innegehalten hatte.
Der Weg durch die Felsspalte hatte von Anfang an steil nach oben geführt. Und da er kaum Kopffreiheit bot, blieb den Jungen nichts anderes übrig, als den Hang auf allen vieren hinaufzukriechen. Der Untergrund war glatt und von Wasser überströmt, das den Hang hinab ins Meer floss. Während sie immer höher kletterten, wich das Wasser zunehmend warmem Schlamm, der die zähe Konsistenz von Rohöl besaß. Dadurch wurde der Untergrund unglaublich rutschig, was ihr Fortkommen erheblich erschwerte.
Etwas weiter oben gelangten sie zu einem Abschnitt, wo das Gestein sich regelrecht heiß anfühlte, und Will sah kleine Lachen, in denen der Schlamm brodelte. Danach erreichten sie ein Gebiet, in dem winzige Dampffontänen aus den Lachen aufstiegen, wie Geysire im Miniaturformat. Offensichtlich waren sie die Quelle des allgegenwärtigen Nebels, der die Jungen einhüllte.
Das Ganze erinnerte an eine Dampfsauna auf höchster Temperatur – es war unerträglich heiß und feucht. Will schnaufte schwer und versuchte vergeblich, sich etwas Kühlung zu verschaffen, indem er den Hemdkragen lockerte. Hin und wieder zog ein starker Schwefelgeruch durch die Luft, der so intensiv war, dass Will schwindlig wurde. Er fragte sich, wie die anderen dies nur aushielten.
Elliott hatte ihnen erlaubt, die Lampen auf die hellste Stufe zu stellen, wofür Will ihr sehr dankbar war.
Gelegentlich hörte Will vor sich die Stimme seines Bruders. Nach dessen Flüchen zu urteilen, war auch er alles andere als glücklich. In dieser Situation ließen alle drei Jungen ihrem Frust freien Lauf. Chester maulte am meisten und fluchte wie ein Bierkutscher. Nur Elliott blieb sich treu, war wortkarg wie immer und ging stumm ihren Weg.
Als Chester am Seil zog, erkannte Will, dass er beinahe eingeschlafen wäre, und setzte sich rasch wieder in Bewegung. Doch schon bald musste er erneut innehalten, um sich den Matsch aus den Augen zu wischen. Dabei entdeckte er eine Schlammlache in der Nähe, in der die Blasen ein unaufhörliches Blubb-blubb-blubb von sich gaben.
Wieder wurde unnötig wild am Seil gerissen.
»Oh Mann, vielen Dank auch, Kumpel!«, schrie er den Hang hinauf zu Chester.
Das ständige Rucken am Seil erinnerte Will daran, an wen er angeseilt war. Da er sich um nichts anderes kümmern musste als um den zermürbenden Anstieg, grübelte er darüber nach, was Chester zu ihm gesagt hatte.
»Mit ein paar billigen Worten ist es nicht getan! «
»Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen! «
Die Sätze hallten Will wieder und wieder durch den Kopf.
Wie konnte Chester es wagen, so etwas zu sagen?
Schließlich hatte Will nichts von dem, was passiert war, mit Absicht getan. Nicht im Entferntesten hätte er sich träumen lassen, welche Gefahren auf sie warteten, als er und Chester sich auf die Suche nach Wills Vater gemacht hatten. Und als sie dann gemeinsam die Bahngleise zum Grubenbahnhof entlanggegangen waren, hatte Will sich aus tiefstem Herzen bei Chester für alles entschuldigt. Damals hatte Chester Wills Entschuldigung ohne Vorbehalte angenommen.
»Mit ein paar billigen Worten ist es nicht getan! «
Chester hatte ihm sämtliche Vorwürfe erneut aufs Brot geschmiert. Und was konnte er, Will, nun tun, um es wiedergutzumachen?
Nichts. Es war vollkommen aussichtslos. Doch was würde passieren, wenn sie seinen Stiefvater finden sollten? Es war klar, dass Chester eine intensive Bindung zu Elliott entwickelt hatte – vielleicht auch nur, um Will zu ärgern. Aber ganz gleich, was Chesters Gründe sein mochten: Die beiden schienen sich sehr nahzustehen, und Will fühlte sich eindeutig ausgeschlossen.
Aber wenn sein Stiefvater wieder zu ihnen stieß, wie würde Elliott darauf reagieren? Und wie würde sein Stiefvater auf Elliott reagieren? Würden sie alle zusammenbleiben: er, sein Stiefvater, Chester, Cal und Elliott? Irgendwie konnte Will sich nicht vorstellen, dass sie alle miteinander auskämen. Elliot würde Dr. Burrows viel zu weltfremd und zu unpraktisch veranlagt finden. Will konnte sich keine zwei unterschiedlicheren Menschen denken. Die beiden trennten Welten.
Wenn sie sich also aufteilten, was wäre dann mit Chester? Die Fronten waren abgesteckt, Chester befand sich mit Sicherheit nicht mehr in Wills Lager. Will musste sich eingestehen, dass sich das Verhältnis zu ihm derart verschlechtert hatte, dass es ihm eigentlich nicht viel ausmachen würde, wenn Chester mit Elliott davonzog. Aber so einfach war die
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