Tunnel - 02 - Abgrund
hat?«, fragte Cal und schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ja, hab ich«, sagte Will. »Dabei hast du gerade erzählt, sie würden von Fremden keine Notiz nehmen.«
»Und das kann ich nur noch mal wiederholen … das tun sie normalerweise wirklich nicht. Ich habe sie Hunderte Male in der Südkaverne gesehen und nie hat auch nur ein einziger von ihnen einen Fremden direkt angesehen, nicht ein einziges Mal. Außerdem hat sich diese Gestalt ziemlich schnell bewegt … zu schnell für einen Koprolithen. Der Kerl hat sich völlig untypisch verhalten.« Cal schwieg einen Moment und kratzte sich nachdenklich die Stirn. »Vielleicht reagieren sie ja hier unten anders, weil das ihr Territorium ist. Aber es ist und bleibt merkwürdig.«
»Stimmt«, sagte Will gedankenvoll. Er ahnte nicht, wie nahe er seinem Vater vor wenigen Augenblicken gekommen war.
15
Dr. Burrows erwachte. Er glaubte, den leisen Glockenklang gehört zu haben, das Wecksignal, das grundsätzlich jeden Morgen in der Koprolithensiedlung ertönte. Eine Weile lauschte er angestrengt, dann runzelte er die Stirn. Es war nichts zu hören – er war umgeben von völliger Stille.
Ich muss verschlafen haben, überlegte er, rieb sich das Kinn und schaute überrascht auf, als er die Bartstoppeln spürte. Der zottelige Bart, den er so lange getragen hatte, war ihm ziemlich ans Herz gewachsen und nun, da er ihn abrasiert hatte, fehlte er ihm. Denn das Image, das dieser Bart repräsentierte, hatte für ihn etwas Tröstliches gehabt. Er schwor sich, ihn wieder wachsen zu lassen, sobald seine glorreiche Rückkehr bevorstand, seine endgültige Heimreise an die Erdoberfläche – wann auch immer das sein mochte. Er würde auf den Titelseiten aller Zeitungen ein beeindruckendes Bild abgeben, und er konnte die Schlagzeilen schon vor sich sehen: Der Robinson Crusoe der Unterwelt, Der wilde Mann der Tiefen, Dr. Hades …
»Jetzt reicht es aber«, ermahnte er sich, bevor seine Fantasie endgültig mit ihm durchging.
Er schlug die grobe Decke beiseite und richtete sich auf. Die harte, mit einem strohartigen Material gefüllte Matratze war viel zu kurz, selbst für einen durchschnittlich großen Mann wie ihn, und seine Beine hingen fast einen halben Meter über die Kante.
Dann setzte er die Brille auf und kratzte sich am Kopf. Er hatte versucht, sich die Haare zu schneiden, was jedoch gründlich schiefgegangen war: An manchen Stellen besaß er nur noch kurze Stoppeln und an anderen Stellen standen seine Haare in zentimeterlangen Büscheln ab. Nun kratzte er sich noch intensiver, arbeitete sich vom Kopf über den Hals bis zur Brust und den Achseln vor und warf mit finsterer Miene einen geistesabwesenden Blick auf seine Fingerspitzen.
»Mein Journal!«, murmelte er plötzlich. »Ich habe gestern keinen Eintrag gemacht.« Er war so spät in die Siedlung zurückgekehrt, dass er völlig vergessen hatte, die Ereignisse des Tages in seinem Notizbuch festzuhalten. Missbilligend schnalzte er mit der Zunge, während er das Tagebuch unter seinem Bett hervorholte und es auf einer Seite aufschlug, die bis auf die Überschrift noch vollkommen leer war:
Tag 141
In der Zeile darunter setzte er an, wobei er eine wahllose und unzusammenhängende Melodie vor sich hin pfiff:
Habe mich in der Nacht fast zu Tode gekratzt.
Er hielt inne, leckte nachdenklich einmal über die Spitze des Bleistiftstummels und fuhr fort:
Die Läuse sind schier unerträglich, und sie werden immer schlimmer.
Er schaute sich in dem fast kreisrunden, etwa vier mal vier Meter großen Raum um und blickte dann zur gewölbten Decke hinauf. Die Struktur der Wände wirkte unregelmäßig, als wäre der Putz oder Lehm von Hand aufgetragen worden, und die Form des Raums erinnerte ihn an das Innere eines großen Gefäßes. Dr. Burrows musste lächeln beim Gedanken daran, dass er nun vermutlich wusste, wie sich ein gefangener Flaschengeist fühlen musste. Der Eindruck eines Gefäßes wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass sich der einzige Zugang zum Raum unter ihm in der Mitte des Bodens befand. Als Abdeckung diente eine gehämmerte Metallplatte, die einem alten Mülleimerdeckel ähnelte.
Dr. Burrows warf einen Blick auf seinen Staubanzug, der wie die abgestreifte Haut einer Echse an einem Holzhaken an der Wand hing. Allerdings strahlte ein Licht aus den Augenhöhlen, das von den beiden eingesetzten kleinen Leuchtkugeln stammte. Eigentlich hätte er den Anzug längst anziehen sollen, aber er fühlte sich
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