Tunnel - 02 - Abgrund

verpflichtet, zuerst den Eintrag zum Tag zuvor fertigzustellen. Also schrieb er weiter:
    Ich spüre, dass für mich der Moment gekommen ist, mich wieder auf den Weg zu machen. Die Koprolithen …
    Er zögerte und rang mit sich selbst, ob er den Namen verwenden sollte, den er sich für diese Leute ausgedacht hatte – immer unter der Voraussetzung, dass es sich um eine eigenständige Spezies des Homo sapiens handelte, was er allerdings noch nicht eindeutig hatte belegen können. »Homo caves« ,murmelte er vor sich hin, doch dann schüttelte er den Kopf und entschied sich dagegen. Er wollte keine Verwirrung stiften, ehe er nicht alle Fakten zusammen hatte. Ein weiteres Mal setzte er den Bleistift an.
    Ich glaube, die Koprolithen versuchen, mir mitzuteilen, dass ich aufbrechen sollte, wobei ich allerdings nicht weiß, warum.
    Ich denke nicht, dass es irgendetwas mit mir zu tun hat oder damit, dass ich vielleicht etwas falsch gemacht habe. Ich könnte mich zwar irren, aber eigentlich bin mir ziemlich sicher, dass die Stimmung in der Siedlung umgeschlagen ist. Während der vergangenen vierundzwanzig Stunden herrschte hier eine größere Betriebsamkeit als in den letzten beiden Monaten zusammen. Außerdem konnte ich beobachten, dass sie zusätzliche Vorratslager angelegt und die Bewegungsfreiheit der Frauen und Kinder außerhalb der Siedlung stark eingeschränkt haben. Es erscheint mir fast, als rechneten sie mit einer Belagerung. Natürlich könnte es sich dabei auch nur um ganz normale Vorsichtsmaßnahmen handeln, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden, aber ich glaube, dass bald irgendetwas passieren wird.
    Und so scheint für mich der Moment gekommen, meine Reisen fortzusetzen. Die Koprolithen werden mir sehr fehlen. Sie haben mich in ihre friedliebende Gesellschaft aufgenommen, eine Gemeinschaft, in der jeder mit jedem wunderbar auszukommen scheint – und seltsamerweise auch mit mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich weder ein Kolonist noch ein Styx bin und sie erkannt haben, dass ich für sie und ihre Kinder keine Gefahr darstelle.
    Besonders ihr Nachwuchs ist für mich eine Quelle ständiger Faszination – die Kinder sind sehr verspielt und abenteuerlustig. Und ich muss mich regelmäßig daran erinnern, dass sich die Kleinen gar nicht so sehr von den Erwachsenen unterscheiden.
    Er unterbrach sein Pfeifen und lachte leise in sich hinein, weil ihm wieder einfiel, wie die Erwachsenen anfangs seinem Blick ausgewichen waren, als er vergebens versucht hatte, mit ihnen zu kommunizieren. Sie hatten ihre kleinen grauen Augen abgewandt, und aus ihrer Körperhaltung sprach eine verlegene Unterwürfigkeit. Tatsächlich unterschied er sich hinsichtlich seines Temperaments derartig von diesen bescheidenen Leuten, dass er sich zu manchen Zeiten wie der Hauptdarsteller in einem Western gefühlt hatte – der einsame Revolverheld, die die endlose Prärie durchquert, um einer Stadt von eingeschüchterten Farmern oder Minenarbeitern zu Hilfe zu eilen. Für sie war Dr. Burrows ein mächtiger, jeden Widerstand überwältigender, »richtiger« Mann. Ha! Ausgerechnet er!
    »Jetzt reiß dich mal zusammen«, ermahnte er sich und nahm seine Notizen wieder auf:
    Alles in allem sind die Koprolithen ein unglaublich sanftes und chronisch zurückhaltendes Volk, und ich kann nicht behaupten, dass ich sie wirklich kennengelernt hätte. Vielleicht ist den Sanftmütigen die Erde ja tatsächlich zuteilgeworden.
    Ich werde niemals vergessen, wie sie mir in einem Akt der Barmherzigkeit das Leben gerettet haben. Obwohl ich schon zuvor davon berichtet habe, musste ich jetzt, da ich sie bald verlassen werde, erneut daran denken.
    Dr. Burrows hielt inne, schaute auf und starrte ein paar Sekunden gedankenverloren vor sich hin – wie jemand, der sich an etwas zu erinnern versucht, aber vergessen hat, warum er sich überhaupt daran erinnern wollte.
    Dann blätterte er durch sein Tagebuch bis zum allerersten Eintrag über die Tiefen und las seine damaligen Notizen.
    Die Kolonisten waren unfreundlich und verschlossen, während sie mich ziemlich weit vom Grubenbahnhof fortführten, in eine Lavaröhre, wie sie es nannten. Sie erklärten mir, ich solle der Röhre bis zur Großen Prärie folgen – das, was ich suchte, läge auf halber Strecke. Aber als ich ihnen ein paar Fragen stellen wollte, wurden sie ziemlich abweisend.
    Da ich nicht vorhatte, mich mit ihnen zu streiten, tat ich, wie mir geheißen. In einem zügigen Tempo marschierte ich