Tunnel - 02 - Abgrund
gelegt. Zumindest lebte sie noch. Und was konnten sie ihr schlimmstenfalls schon antun? Sie töten, nachdem sie sie einer ihrer schrecklichen Foltermethoden unterzogen hatten? Das Ergebnis wäre letztendlich das gleiche. Tot – früher oder später. Sie hatte nichts zu verlieren.
Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick über den Fahrstuhlkorb schweifen und trat dann zögernd in die düstere Luftschleuse – ein etwa fünf Meter langer, ovaler Raum mit zahlreichen Vertiefungen an den Wänden. Sarah stützte sich an den Seiten ab, während sie sich vorsichtig über den schmierigen, längs gerillten Metallboden tastete und mit wachsender Nervosität auf die weit geöffnete Tür am anderen Ende zuging.
Zögernd lehnte Sarah sich hinaus. Sie hörte die abscheuliche Sprache der Styx – durchdringende, stakkatoartig geäußerte Worte, die in dem Moment abbrachen, als die drei sie sahen. Sie standen ein Stück entfernt, auf der anderen Seite des breiten Tunnels. Soweit Sarah das im schwachen Schein von Rebeccas Lampe beurteilen konnte, war der Tunnel leer; dahinter lag eine kopfsteingepflasterte Straße und ein schmaler Gehweg, auf dem Rebecca und die anderen Styx auf sie warteten. Weit und breit war kein einziges Gebäude zu sehen. Sarah erkannte sofort, dass es sich um eine Art Schnellstraßentunnel handeln musste, der möglicherweise zu einer der Lagerhöhlen führte, die sich am Rand des Bezirks befanden.
Langsam hob sie ihren Fuß über die Gummilippe der Luftschleusentür und platzierte ihn auf das feucht glänzende Kopfsteinpflaster. Dann zog sie – ebenso langsam – den anderen Fuß nach, sodass sie die Schleuse nun endgültig hinter sich gelassen hatte. Sie konnte es kaum fassen, dass sie wieder in der Kolonie war. Ehe sie einen weiteren Schritt in die Höhle machen konnte, hielt sie einen Moment inne, warf einen Blick über die Schulter und schaute zu der Wand, die sich in einem eleganten Bogen über ihrem Kopf wölbte und weit oben – tief in den Schatten verborgen – mit der gegenüberliegenden Wand zusammentraf. Sarah streckte den Arm aus und drückte ihre Handfläche auf einen der riesigen, rechteckigen, präzise zugeschnittenen Sandsteinblöcke, aus denen die Wände bestanden. Sofort spürte sie das schwache Brummen der gewaltigen Ventilatoren, die die Luft in den Tunneln zirkulieren ließen. Dieser konstante Rhythmus, der sich völlig von den Vibrationen der über ihnen liegenden Übergrund-Stadt unterschied, übte eine beruhigende, tröstliche Wirkung aus, fast wie der Herzschlag im Mutterleib.
Sarah atmete tief ein. Der Geruch war noch immer da, diese charakteristische Mischung aus Moder und Muff – ein Destillat aller Menschen, die im Bezirk und in der darunter befindlichen riesigen Kolonie lebten. Der Geruch war unverkennbar, und sie hatte ihn so lange nicht gerochen.
Sie war wieder zu Hause.
»Bereit?«, rief Rebecca und riss Sarah damit aus ihren Gedanken.
Ruckartig drehte Sarah sich zu den drei Styx um.
Sie nickte.
Rebecca schnippte mit den Fingern, und aus den Schatten rollte eine Kutsche ins Licht, deren eisenbeschlagene Räder über das Kopfsteinpflaster ratterten. Das schwarze, kastenförmige Gefährt wurde von vier schneeweißen Pferden gezogen – kein ungewöhnlicher Anblick in der Kolonie.
Die Kutsche hielt vor Rebecca, während die Pferde ungeduldig mit den Hufen aufstampften und ihre Nüstern blähten.
Als die drei Styx einstiegen, schaukelte die Droschke, und Sarah setzte sich langsam in Bewegung.
Auf dem Kutschbock vor dem Fahrgastraum saß ein Kolonist – ein alter Mann mit einem zerknitterten Hut, der Sarah aus harten, kleinen Augen böse anstarrte. Während Sarah an den Pferden vorbeiging, überkam sie ein Gefühl der Befangenheit – sie spürte instinktiv, was er dachte. Vermutlich wusste er zwar nicht, wer sie war, doch ihre Übergrundler-Kleidung und die Styx-Eskorte sagten ihm genug: Sie war der verhasste Feind.
Als Sarah den Gehweg betrat, räusperte sich der Kutscher auf heisere, stark übertriebene Weise, beugte sich zur Seite und spuckte auf den Boden, nur Millimeter von Sarah entfernt. Sarah blieb abrupt stehen, trat dann ganz bewusst auf den Schleim, den er ausgerotzt hatte, und zerdrückte ihn mit ihrem Schuh, als würde sie ein Insekt zertreten. Dann schaute sie zu dem Mann hoch und erwiderte herausfordernd seinen starren, hasserfüllten Blick. Ihre Augen kreuzten sich ein paar Sekunden, bis der Kutscher schließlich blinzelte und zur Seite
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