Tunnel - 02 - Abgrund
ruckartig den Kopf hoch. Dieser Wutausbruch kam so plötzlich, dass Sarah sie überrascht anstarrte. »Dieser Junge ist nicht Seth … das ist nicht mehr dein Sohn«, sagte ihre Mutter mit zusammengekniffenen Augen und vor Zorn angespannter Halsmuskulatur. »Nicht nach all dem, was er angerichtet hat.«
»Und weißt du das auch ganz genau?«
Ihre Mutter war vor Wut kaum zu verstehen. »Joe … die Styx … die Polizei … alle wissen das ganz genau!«, sprudelte sie hervor. »Weißt du denn nicht, was passiert ist?«
Sarah war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, mehr zu erfahren, und dem Wunsch, ihre Mutter nicht noch mehr aufzuregen. Aber sie musste die Wahrheit herausfinden. »Die Styx haben mir erzählt, Will hätte Tarn in eine Falle gelockt«, sagte Sarah und drückte ihrer Mutter tröstend die Hände, die sich ganz steif und hart anfühlten.
»Nur um seine eigene erbärmliche Haut zu retten«, fauchte die alte Dame. »Wie konnte er das nur tun?« Sie ließ den Kopf sinken, hielt den Blick aber auf Sarah geheftet. Ihre Wut schien einen kurzen Moment abzuebben und wich einem Ausdruck völligen Unverständnisses. In diesem Augenblick war sie wieder die Frau, die Sarah in Erinnerung gehabt hatte – die freundliche alte Dame, die ihr ganzes Leben lang zum Wohle der Familie hart gearbeitet hatte.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Sarah. »Es heißt, er hätte Cal gezwungen, ihn zu begleiten.«
»Und ob!« Im nächsten Moment kehrte der hasserfüllte, wutverzerrte Ausdruck in das Gesicht ihrer Mutter zurück; sie wölbte ihre ohnehin gekrümmten Schultern und riss ihre Hände los. »Wir haben Will mit offenen Armen wieder in die Familie aufgenommen, aber er hat sich in einen durchtriebenen, abscheulichen Übergrundler verwandelt.« Sie schlug mit der Faust auf die Sessellehne und stieß dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Er hat uns getäuscht … uns alle … und seinetwegen musste Tarn sterben.«
»Ich verstehe nur nicht, wie … Warum hat er Tarn das angetan? Warum sollte einer meiner Söhne so etwas tun?«
»ER IST NICHT MEHR DEIN VERDAMMTER SOHN!«, schrie ihre Mutter auf und schnappte keuchend nach Luft.
Sarah zuckte zusammen – nie zuvor hatte sie ihre Mutter fluchen gehört, nicht ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben. Außerdem sorgte sie sich um ihre Gesundheit: Sie war so außer sich, dass Sarah fürchtete, sie könnte ernsthaften Schaden nehmen, wenn sie sich noch länger derart aufregte.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, sagte die alte Dame flehentlich: »Was auch immer du vorhast, bitte rette Cal.« Sie beugte sich vor, und erneut strömten ihr die Tränen über das runzlige Gesicht. »Du bringst mir doch Cal zurück, oder, Sarah?«, hakte ihre Mutter nach. Dann schlich sich eine harte, eisige Note in ihre Stimme: »Du wirst ihn retten – versprich mir das.«
»Das verspreche ich, und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, flüsterte Sarah, wandte das Gesicht ab und starrte in das Feuer im Kamin.
Diese erneute Begegnung mit ihrer Mutter, von der sie in all den Jahren so oft geträumt hatte, war durch Wills Arglist besudelt und entweiht worden. In diesem Moment beseitigte die tiefe Überzeugung ihrer Mutter, dass Will die Verantwortung für all das trug, sämtliche Bedenken, die Sarah vielleicht noch gehabt hatte. Trotzdem fiel es ihr schwer, sich einzugestehen, dass das stärkste Gefühl, das sie mit ihrer Mutter nach zwölf Jahren im Exil verband, ein überwältigender Durst nach Rache war.
Schweigend lauschten sie auf das Knistern des Feuers. Es gab nichts mehr zu sagen, und keine der beiden Frauen hatte das Bedürfnis, noch länger zu reden – ihre Gedanken waren nur noch erfüllt von der Wut und dem abgrundtiefen Hass auf Will.
Vor dem Haus schaute Rebecca zu, wie die Pferde ungeduldig mit den Hufen scharrten und ihr Geschirr schüttelten. Sie lehnte an der Tür der zweiten Kutsche, in der Joe Waites, eingekeilt zwischen mehreren Styx, saß und nervöse Blicke in Richtung des Styx-Mädchens warf. Sein Gesicht war bleich und angespannt und seine Stirn glänzte vor Schweiß.
Nach einer Weile trat ein Styx aus der Haustür der Familie Jerome. Es handelte sich um denselben Styx, der während der Reise neben Sarah gesessen und sich ohne Wissen der beiden Frauen durch die Hintertür ins Haus geschlichen hatte, um ihr Gespräch vom Flur aus zu belauschen.
Jetzt hob er den Kopf und sah Rebecca an, die anerkennend zurücknickte.
»Ist das ein gutes
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