Turils Reise
niedriger Hertzzahl tönende Unterlage bildeten. Er stimmte die Hymne des Südlandes an, wechselte fließend in das Hohelied der Eisblumen. Seine jahrelange Gesangsausbildung machte sich einmal mehr bezahlt. Die Domiendramer erstarrten vor Ehrfurcht, vergaßen darauf, selbst mitzusingen, wie es eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre. Nur die Hofdamen, seit vielen Jahren auf ihren Part in diesem makabren Schauspiel vorbereitet, ließen sich nicht irritieren. Ihre schlanken Körper wanden sich über die mit feuchtem Humus bestreute Ehrentribüne. Die Färbung ihrer nackten Körper wechselte von Lindgrün zu Orange, von Orange zu Karmesinrot. Aus länglichen Drüsenporen unter den Astarmen quollen harzige, säuerlich riechende Tropfen. Je lauter Turils Singsang wurde, desto stärker floss der Strom des Sekrets, desto aggressiver verhielten sich die sonst so vornehm wirkenden Damen - und desto unruhiger wirkte Pramain der Götzliche.
Turil brach ab, die Trommler folgten sofort seinem knappen Kommando. Erledigten sie ihre Arbeit zur Zufriedenheit der Hofdamen, warteten Lob und eine lebenslange Verwurzelung im Hofkastell auf sie.
Die so plötzlich eintretende Stille erzeugte Verwirrung, sowohl bei den Beteiligten wie auch bei den Zuschauern. Das kollektive Schunkeln ließ nach, die Domiendramer zogen die feinen Pflanzenfühler von ihren Nachbarn zurück und gaben sich reserviert.
»Es ist ein schöner Tag!«, rief Turil und deutete in den wolkenverhangenen Himmel. »So wie nach dem Sonnenschein der Regen kommt und das Wasser die Luft säubert, unseren Pflanzenfreunden Wachstum schenkt und unsere Adern reinigt, so wird durch Pramains Tod Platz für Neues geschaffen.« Er deutete auf den feisten Herrscher, der mitsamt jenem Teil seines Thronsaals, in den er während der letzten Jahrzehnte seine Wurzeln gebohrt hatte, auf den Opferblock gesetzt worden war. »Unser König hat uns gute Jahre geschenkt; heutzutage verbindet man die Begriffe Glück, Reichtum und Wachstum auf vielen Welten des Kahlsacks mit dem Namen Domiendram.« Dies war eine glatte Lüge, die den Einwohnern schmeicheln sollte. Das seltsame Völkchen erregte bestenfalls lokale Aufmerksamkeit durch den Export landwirtschaftlicher Produkte. Die Domiendramer waren weder ein politisches Schwergewicht noch spielten sie im Konzert der Militärmächte des Kahlsacks irgendeine Rolle. »Huldigen wir also dem Götzlichen für all die Jahre, die er im Dienste seines Volkes geopfert hat. Er soll uns dank seiner außerordentlichen Leidensbereitschaft ein Vorbild sein. Als einfacher Bürger wurde er zum König gekrönt. Heute, hier und jetzt wird er in Demut alle seine Würden ablegen und in seine frühere Existenz zurückkehren, bevor wir ihm dem Herrn der Großen Dürre überantworten.«
In Wahrheit hatte der Götzliche derzeit weder Erhabenheit noch Größe zu bieten. Ganz im Gegenteil: Trotz
der Beruhigungsmittel, die man ihm verabreicht hatte, wehrte sich Pramain mit aller Kraft gegen die Fesselfelder auf dem Opferplatz. In seinen weit aufgerissenen Augen stand entsetzliche Panik, und der Todgeweihte stammelte Unverständliches. Nur Turil konnte dank seiner justierten Haftschalen das Kosmetikfeld durchblicken und den verzweifelten Kampf des Götzlichen gegen die Fesselung verfolgen. Der Energieschirm beschönigte, was der geschasste Herrscher tat - oder nicht tat. Er zeigte einen ruhig dasitzenden Pramain, der Zufriedenheit und Freude ausstrahlte. Die Illusion der freiwilligen Selbstopferung des Königs musste unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Nur dann würden die Domiendramer an eine positive Zukunft glauben, nur dann würden die Hofdamen auf Betriebstemperatur kommen und jenen Part des Zeremoniells übernehmen, der unabdingbar war.
War es denn moralisch vertretbar, was Turil tat?
Pfeif auf die Ethik!, dachte er mit jenem Zynismus, der ihm während der letzten Jahre seinen Verstand bewahrt hatte. Er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Er gab seinen Zuhörern einen ausführlicheren Überblick über die Erfolge, die man Pramain zuschreiben konnte. Er redete von dessen persönlichem Einsatz, seinem Durchsetzungsvermögen, seiner Beharrlichkeit. Er lobte und pries den Götzlichen, sorgte dafür, dass die Zuhörer in andachtsvoller Stille lauschten - und das Opfer des Götzlichen umso mehr schätzten.
Das schartige, jahrhundertealte Zeremonienmesser in seiner Rechten wog schwer. Turil würde töten. So, wie er es bereits einige Male zuvor bei
Weitere Kostenlose Bücher