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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marcus Thurner
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halte ich es für einen schweren Fehler, dass du das Zelt betreten hast. Ich werde der GELFAR Meldung erstatten.«
    »Untersteh dich!«, sagte der Totengräber vermittels Zwerchfell-Mikro so leise und unauffällig, dass Agonphyl nichts hören konnte. »Ich verbiete dir jedweden Kontakt mit Pschoim.«
    »Glaubst du etwa, diesen kleinen Ausflug vor deinem Vater verbergen zu können? Sie werden meine Protokollroutinen auswerten. Sie werden dir auf die Schliche kommen …«
    Turil drosselte die Funktionstüchtigkeit seines wichtigsten Hilfsmittels so weit, bis die Proteste erstarben, bis der Mantel nur noch auf lebenserhaltende und lebensbewahrende Schutzmaßnahmen reduziert war, ohne eigene Stimme und mit nur geringer Eigenkompetenz.

    Wie hatte er nur so dumm sein können, das Kleidungsstück zu aktivieren! So sehr der Zeremonienmantel im Alltag von Nutzen war - er besaß ausgeprägte Kontrollroutinen, die in dauerndem Kontakt mit der GELFAR standen.
    »Nimm Platz«, forderte ihn Agonphyl auf. Der Händler deutete auf eine breite, kunstvoll verzierte Bank, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Der Lichtkegel eines Scheinwerfers glitt wie zufällig über die intarsierte Sitzfläche hinweg. Fäden ragten, Haaren gleich, aus dem Holz hervor. Ihre Spitzen glitzerten giftgrün.
    »Keine Angst«, brummte Agonphyl, »dir wird nichts geschehen. Leg bitte schön Mantel und Rucksack ab und setz dich, damit dich der Stuhl vermessen kann.«
    »Ich möchte wissen, wie du meine Flucht ermöglichen willst.« Er war auf eine derartige Situation nicht vorbereitet. Konnte er sich auf sein Urteilsvermögen verlassen? War es nicht vernünftiger, auf die Einflüsterungen des Zeremonienmantels zu hören? Er traute diesem Stuhl nicht und empfand Angst angesichts all der Unabwägbarkeiten, die er sah, roch und ahnte.
    »Das bleibt mein Geheimnis«, sagte der Händler. »Aber wir besitzen ein ebenso stark ausgeprägtes Berufsethos wie ihr Thanatologen.« Agonphyl starrte ihn an. Die vielfarbenen Facetten der Augen verdrehten sich gegeneinander, wurden zu rotierenden Scheiben, in denen sich hunderte Lichtreflexe spiegelten. »Hör mir gut zu, Junge«, sagte er mit lockender, süßlicher Stimme, »ich biete dir eine einmalige Chance, deinem Schicksal zu entkommen. Ich habe bereits einmal einem Totengräber geholfen, und er hat seine Entscheidung niemals bereut. Er erzählte mir von all den Zwängen, denen ihr ausgeliefert seid; von der schrecklichen Einsamkeit, von grausamen Ritualen, dem täglichen Umgang
mit Leid und Elend, der euch an den Rand des Wahnsinns bringt - und darüber hinaus.« Agonphyl lachte, seine Nase wippte heftig auf und ab. »Du glaubst, dass ich dich übervorteile? - Nun, das Gegenteil ist wahr. Ich gehe ein hohes Risiko ein und stelle mich gegen den erklärten Willen der Mächtigen des Kahlsacks. Vielleicht ist irgendetwas an und in dir, das ich teuer weiterverkaufen kann; vielleicht sind mir deine Informationen von Nutzen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass in deinem Kopf nichts Verwertbares steckt.« Der Händler atmete aus; ein Geruch nach Süßzwiebeln und verrottendem Blattwerk erfüllte den Raum. »Triff deine Entscheidung: ja oder nein. Vertrauen oder Misstrauen. Horch in dich hinein, wie sehr du die Freiheit wirklich herbeisehnst. Denk darüber nach. Aber rasch, bitte schön. Andere Welten, andere Geschäfte warten auf mich.«
    Turil verfluchte seine Unentschlossenheit, seine Angst vor der Endgültigkeit einer Antwort. Alles in ihm drängte danach wegzulaufen, irgendwohin, sich in einem Zankgehöft der Bankiniden zu verkriechen und erst einmal gar nichts zu tun, bis sich die Verwirrung in seinen Gedanken legte.
    »Ich mach’s.« Mit zittrigen Fingern löste er die Halteklammern des Zeremonienmantels und legte sein wichtigstes Hilfsmittel gemeinsam mit dem halb gefüllten Rucksack zu Boden. So, dass beides jederzeit griffbereit war und er die darin versteckten Werkzeuge binnen weniger Sekunden aktivieren konnte. Der Mantel protestierte still, das übliche Gefühl eines schmerzhaften Verlustes machte sich in Turil breit. Er schloss die Augen und ließ sich auf der Bank mit den vielen feinen Härchen nieder, in der Erwartung, von ihnen perforiert zu werden.

    Nichts geschah; er bemerkte lediglich ein Jucken rings um seinen Darmkatheter. Das Sondenkonvolut, das sich in der unmittelbaren Umgebung seines künstlichen Verdauungsausgangs befand und Hunger sowie Appetit regelte, reagierte empfindlich auf die

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