Turils Reise
Erbe. Ohne ihn starb ein altes und hoch geachtetes Geschlecht der Thanatologen aus, und das Schiff samt all seiner Werte fiel an Friedenshof Grau zurück.
Ihm blieben nur noch wenige Sekunden, um hoch zur GELFAR zu gelangen. Und wenn er hierblieb? Wenn er sich auf sein Glück verließ oder den Tod in Kauf nahm?
Agonphyls hektische Aktivität erreichte einen Höhepunkt. Der Händler fluchte und jammerte, packte den mittlerweile auf Körpergröße geschrumpften Krämerladen in einen Kompressionsrucksack, den er sich wiederum um den voluminösen Leib schnallte. Die Schutzkäfer umflackerten ihn hektisch. Sie rochen die Gefahr. Ein Seil fiel aus dem Nichts zu Agonphyl herab. Der Händler hakte sich daran fest und kommunizierte über Funk mit einem Unbekannten,
der wohl in luftiger Höhe dieses seltsame Abschleppmanöver steuerte. Die Krämer lebten ein Leben auf der Flucht; sie waren auf Schwierigkeiten vorbereitet.
Schreckensschreie erklangen links und rechts. Die bislang nur durch Alarmsignale angekündigte Gefahr erhielt nun ein Gesicht, ein schreckliches Gesicht. Bankiniden eilten über den Platz, kreuz und quer. Angehörige aller Kasten. Arm und reich, Rechtlose und Purpurne flüchteten vor einer schrecklichen, unsichtbaren Gefahr.
»Nimm mich mit!«, flehte Turil den Händler an. »Lass mich nicht im Stich! Ich will nicht zurück zu Pschoim und zur GELFAR!« Er griff nach dem Seil, glitt haltlos an ihm ab. Selbst die Kraft der Stützelemente des Zeremonienmantels reichte nicht aus, um sich an diesem seltsamen Stück Leine festzuhalten.
Agonphyl brummlachte, während er sich allmählich in die Lüfte erhob. »Mach’s gut, kleiner Totengräber. Vielleicht sehen wir uns wieder. Irgendwo, irgendwann.«
»Aber …« »Sieh endlich zu, dass du dich in Sicherheit bringst! Die Kitar lassen ihre Schleppnetze bereits über die Oberfläche Bankins schleifen. Sie töten um des Tötens willen, und selbst ein Wesen wie du ist ihrer Mordmaschinerie hilflos ausgeliefert.« Schon schwebte er in einer Höhe von mehr als dreißig Metern, seine Stimme verlor an Kraft. Irgendwo weit oben im Firmament glaubte Turil ein Pünktchen zu erkennen; dort steckte wohl der Partner des Händlers.
»Ich kann nicht zurück! Ich hasse Pschoim, ich hasse das Schiff, ich hasse mein Leben!« Turil fiel auf die Knie. Unnatürliche Schwäche überkam ihn, seltsame Flüssigkeit füllte seine Augen. Waren dies etwa … Tränen?
»Ich konnte einige deiner Körpersonden entfernen«, rief
ihm Agonphyl aus luftiger Höhe zu. »Du hast nun mehr Freiheiten. Und Emotionen. Vergiss nie: Du bist etwas anderes, als man dich glauben macht.« Der Krämer winkte zum Abschied mit den Flügeln, ließ sie in einem Rot des Bedauerns aufleuchten - und verschwand samt seiner Schutzkäfer zwischen zwei Wolkenbänken.
Turil blieb sitzen. Wie betäubt griff er nach dem Kautiumbeutel und holte eine winzige Dosis der Flitterstückchen hervor. Noch zögerte er. Er musste sich entscheiden, musste zwischen einem schmerzlosen Tod und dem Leben in Gefangenschaft an Bord der GELFAR wählen.
Der Funk des Zeremonienmantels übertrug Schreckensnachrichten. Gebäude fielen planetenweit in sich zusammen, Bankiniden starben zu Hunderttausenden, von den Nano-Schleppnetzen der Kitar zerfetzt und in unkenntliche Stücke zerlegt. Gewaltige Blutwolken trieben übers Land, färbten das Gras und die Gebäude rot, von plötzlich aufkommenden Stürmen verwirbelt. Die Unbekannten waren wie Fischer, die keinerlei Interesse daran hatten, ihre Beute lebendig in die Finger zu bekommen. Sie töteten und vernichteten, wie es ihnen gefiel.
»Komm endlich!«, schallte ein Ruf seines Vaters aus dem Zeremonienmantel. War da ein Anflug von Ungeduld und Besorgnis aus seinen Worten zu hören?
Ja, er würde gehorchen. Und er würde für sich behalten, was heute geschehen war. Sein Horizont, so fühlte Turil, hatte sich dank Agonphyls Hilfe ein wenig erweitert. Er sah neue Möglichkeiten, den endlosen Qualen an Bord der GELFAR zu entgehen und sich ein Stückchen Freiheit zu erkämpfen.
In der Ferne zerbrach der Hauptturm eines Zankgehöfts. Er stürzte in sich zusammen, wurde zu einer Wolke aus
Staub und Wasserperlen. Magma spritzte wie eine Flutwelle hoch. Die Kitar setzten das Schleppnetz tief an, so tief, dass es die Erdkruste aufschnitt und kilometerweit ins Innere der dem Untergang gewidmeten Welt eintauchte. Felsplatten schossen in die Luft, gefolgt von Feuer und Flamme, apokalyptische Stürme
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