Turm der Hexer
»Öffne ihm den Mund, Garion«, befahl sie.
Garion zwängte seine Finger zwischen Belgaraths zusammengebissene Zähne und drückte die Kiefer auseinander. Tante Pol zog die Unterlippe ihres Vaters herab, fuhr mit dem glänzenden Blatt in seinen Mund und strich einmal, und nur ein einziges Mal, damit leicht über seine Zunge.
Belgarath hüpfte ruckartig empor, seine Füße scharrten plötzlich über den Boden.
Seine Muskeln zitterten, und seine Arme bewegten sich wie Dreschflegel.
»Haltet ihn am Boden«, bat Tante Pol. Sie trat zurück und hielt das Blatt weit von sich, während Mandorallen und Barak herbeisprangen und Belgaraths krampfhaft zuckenden Körper festhielten. »Gebt mir eine Schale«, befahl Tante Pol, »eine hölzerne.«
Durnik reichte ihr eine, und sie legte das Blatt und die Zange hinein. Dann zog sie vorsichtig den Handschuh aus und legte ihn ebenfalls in die Schale. »Nimm das«, sagte sie zu dem Schmied. »Du darfst auf keinen Fall den Handschuh berühren.«
»Was soll ich damit tun, Herrin Pol?«
»Nimm es mit nach draußen und verbrenne es mit Schale und allem und achte darauf, daß niemand den Rauch einatmet.«
»Es ist so gefährlich?« fragte Silk.
»Es ist noch schlimmer, aber das sind die einzigen Vorsichtsmaßnahmen, die wir hier treffen können.«
Durnik schluckte schwer und verließ dann den Wagen, die Schale vor sich haltend, als wäre es eine lebendige Schlange.
Polgara nahm einen kleinen Mörser und begann, bestimmte Kräuter aus ihrer Tasche zu feinem Pulver zu zermahlen, wobei sie Belgarath weiterhin angestrengt beobachtete. »Wie weit ist es bis zur Feste, Cho-Hag?«
»Ein Mann mit einem guten Pferd könnte es in einem halben Tag schaffen.«
»Wie lange dauert es mit einem Wagen der vorsichtig gefahren wird, um Erschütterung zu vermeiden?«
»Zwei Tage.«
Sie runzelte die Stirn und mischte weiter ihre Kräuter. »Also schön, wir können es wohl nicht ändern. Bitte schicke Hettar zur Königin Silar. Er soll ihr ausrichten, daß ich ein warmes, helles Zimmer brauche, mit einem guten Bett und ohne Durchzug. Durnik, ich möchte, daß du den Wagen fährst. Keine Erschütterungen auch wenn es eine Stunde länger dauert.«
Der Schmied nickte.
»Er kommt doch wieder in Ordnung?« fragte Barak mit gepreßter Stimme. Belgaraths Zusammenbruch hatte ihm einen Schock versetzt.
»Es ist noch zu früh, um etwas sagen zu können«, antwortete sie. »Er stand vielleicht schon seit Tagen am Rand des Zusammenbruchs. Aber er wollte sich nicht gehenlassen. Ich glaube, diese Krise hat er überwunden, aber möglicherweise kommen noch andere.« Sie legte eine Hand auf die Brust ihres Vaters. »Bringt ihn zu Bett – behutsam. Dann möchte ich einen Schirm oder so etwas um das Bett herum haben, Wolldecken werden genügen. Er braucht Ruhe und darf keinen Zug bekommen. Keine lauten Geräusche.«
Sie alle starrten sie an, als die Bedeutung ihrer Vorsichtsmaßnahmen ihnen ins Bewußtsein drangen.
»Bewegung, meine Herren«, sagte sie streng. »Sein Leben kann von einer gewissen Eile abhängen.«
6
D er Wagen schien kaum vorwärts zu kommen. Die Sonne war wieder hinter hohen, dünnen Wolken verborgen, und eine bleierne Kälte lag über der eintönigen Ebene Südalgariens. Garion fuhr im Innern des Wagens. Sein Kopf war schwer, sein Körper fast gefühllos vor Erschöpfung. Er beobachtete Tante Pol, die über den bewußtlosen Belgarath wachte. An Schlaf war nicht zu denken. Jederzeit konnte eine neue Krise eintreten, und dann mußte er bereit sein, ihr zu Hilfe zu eilen, seinen Willen und die Kraft seines Amuletts mit der ihren zu vereinen. Botschaft saß mit ernstem Gesicht still auf der anderen Seite des Wagens. Den Beutel, den Durnik für ihn gemacht hatte, umklammerte er fest. Der Gesang des Auges klang noch immer in Garions Ohren, jetzt jedoch nur noch sehr leise, aber stetig.
In den Wochen, seit sie Rak Cthol verlassen hatten, hatte er sich fast an den Gesang gewöhnt, aber in stillen Augenblicken oder wenn er müde war, schien er immer mit erneuter Stärke zurückzukehren. Irgendwie war es ein tröstlicher Klang.
Tante Pol beugte sich vor, um Belgaraths Brust zu fühlen.
»Was ist los?« fragte Garion flüsternd.
»Nichts ist los, Garion«, erwiderte sie ruhig. »Bitte frag das nicht jedesmal, wenn ich mich nur rühre. Wenn etwas los ist, werde ich es dir sagen.«
»Entschuldige. Ich mache mir ja nur Sorgen.«
Sie drehte sich um und musterte ihn starr. »Warum nimmst du nicht
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