Turm der Lügen
Séverine verlangte danach, Adrien wie einen Geliebten zu begrüßen. Sie verschlang ihn mit verstohlenen Blicken. Philippes Anwesenheit sorgte jedoch dafür, dass ihr Gruß trotz allem die Form wahrte.
»Was soll aus den Kindern werden, wenn Séverine nach Dourdan geht?«, hörte sie Adrien fragen.
»Da wird sich eine Lösung finden. Für Jeanne hingegen gibt es keine andere Möglichkeit. Mein Vater erlaubt neben der Wehmutter nur eine einzige Betreuungsperson. Wer wäre besser dafür geeignet als Jeannes leibliche Schwester?«
»Woher wisst Ihr …«, fuhr Adrien entsetzt auf.
»Es ist nicht zu übersehen, und Séverine hat es mir eben bestätigt. Also …«
»Zwei Frauen unter solchen Umständen allein in einer Burg voller Bewaffneter. Wer sorgt für ihren Schutz?«, konnte sich Adrien nicht enthalten zu fragen.
»Niemand wird es wagen, Jeanne und ihrer Gesellschafterin zu nahe zu kommen«, rief Philippe unwillig. »Ihr könnt beide gewiss sein, dass ich in der Lage bin, dem Burghauptmann von Dourdan unmissverständliche Befehle zu geben.«
»Erlaubt trotzdem, dass mein Knappe Séverine begleitet«, forderte Adrien schließlich mit einem Unterton der Verzweiflung. Ihm war klar, dass er nicht verhindern konnte, was Philippe sich in den Kopf gesetzt hatte, aber er wollte Séverine wenigstens beschützt wissen.
»Julien wird ihr in Dourdan eine große Hilfe sein. Zudem besitzt er dort die Unterstützung seines Bruders, wie Ihr wisst.«
Zum ersten Male, seit er den Raum betreten hatte, wagte Séverine Adrien offen anzusehen. Ihnen beiden blieb keine Wahl. Abstammung, persönliche Ehre, Pflichtbewusstsein und Vasalleneid zwangen sie zum Gehorsam, auch wenn sich alles in ihnen dagegen aufbäumte.
Wie lange würde diese neuerliche Trennung dauern? Wer konnte ihnen sein Wort geben, ob sie sich überhaupt je wiedersehen würden? Philippe? Er war wie sie ein Opfer der Umstände.
»Gut, Julien soll uns begleiten«, gab er in diesem Moment nach. »Ich weiß auch, Adrien, dass es dir widerstrebt, Séverine gehen zu lassen. Aber sie war schon in jenen schrecklichen Tagen in Pontoise die einzige Vertraute Jeannes. Sie wird ihr Kraft und Mut schenken, und beides benötigt sie dringend. Es geht um die Zukunft des Königreiches.«
»Ihr trennt uns auf Monate«, sprach Adrien Séverines Befürchtungen laut aus. »Ich habe Euch offen gestanden, was Séverine und ich füreinander empfinden. Ihr wisst auch, wie sehr mein Vater auf meine Verheiratung drängt. Ich erbitte unter den gegebenen Umständen, dass Ihr in jedem Fall eine Heirat verhindert, die er fordert. Gebt mir einen Auftrag und teilt meinem Vater mit, dass ich eine wichtige Mission zu erfüllen habe.«
»Mir wird etwas einfallen«, gab ihm Philippe sein Wort. »Nehmt Abschied voneinander. Ich ziehe mich zurück. Niemand wird diesen Raum betreten, bevor ihr ihn nicht verlassen habt.«
* * *
Philippe hinterließ eine Stille, in der sogar das Lodern der Flammen im Kamin zu laut klang.
Adrien trat zu Séverine und ergriff ihre Hände. Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schien seine Berührung nicht zu spüren.
»Ich weiß, was du fühlst, mein Herz«, sagte er anteilnehmend. »Allein, was können wir tun? Unsere Zukunft liegt in den Händen des Königs. Nur er kann dich legitimieren und unsere Heirat ermöglichen, und nur Philippe kann uns dazu verhelfen. Wenn Jeanne tatsächlich einen Sohn zur Welt bringt, bedeutet das auch für uns Hoffnung. Philippe ist dann der Vater des zukünftigen Königs und wird mehr denn je ein offenes Ohr bei seinem Vater finden. Er lässt uns nicht im Stich, ich weiß es.«
Nur allzu bereit, seinen Beteuerungen zu glauben, sank langsam ihr Kopf an seine Brust. In seiner Gegenwart verlor die Zukunft ihren Schrecken. Adrien zog sie enger an sich.
»Wieso zieht keiner von euch in Betracht, dass Jeanne genauso gut ein Mädchen zur Welt bringen kann?«, flüsterte sie. »Was wird dann?«
»Wir finden einen Weg zueinander. Verlass dich darauf«, versprach Adrien.
Séverine verbarg ihr Gesicht und ihre Zweifel an seiner Schulter. Sie sehnte sich danach, eins mit ihm zu sein. Unzertrennlich. Adriens Zärtlichkeiten lösten heftiges Verlangen in ihnen aus, doch sie wagten beide nicht mehr als stürmische Küsse und hastige Berührungen. Zu groß schien ihnen, trotz Philippes Versicherung, die Gefahr, in intimer Umarmung entdeckt zu werden.
»Zögere nicht, Julien zu mir zu schicken, wenn du nicht mehr
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