Turm der Lügen
weiterweißt«, beschwor Adrien sie eindringlich. »Ich werde unverzüglich kommen. Ich fürchte, Philippe unterschätzt die Gefahr, die von Mahaut ausgeht. Es wäre besser gewesen, deine Herkunft vor ihm zu verbergen. Was hat dich bewogen, ihm alles zu gestehen?«
»Es war nicht meine Entscheidung. Er sagte es mir heute mehr oder weniger auf den Kopf zu. Leugnen wäre sinnlos gewesen.«
Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.
»Dourdan«, murmelte Séverine dabei sinnend und wiederholte den Namen ein zweites Mal. Eine Erinnerung flammte auf.
»Adrien, sagtest du mir nicht in Pontoise, ich sei in Dourdan zur Welt gekommen?«
»In der Tat. Warum ist es mir nicht auch aufgefallen?« Adrien schlug sich an die Stirn. »Mahaut gab damals an, auf dem Weg von Orléans nach Paris von den ersten Wehen überrascht worden zu sein. Sie suchte Zuflucht in der königlichen Festung von Dourdan. Fernab vom Hofe und in einer Burg, die zu diesem Zeitpunkt bis auf eine kleine Wachmannschaft fast unbewohnt war. Schon damals überließ sie nichts dem Zufall.«
»Welch seltsames Zusammentreffen. Ich hoffe, Jeannes Kind wird ein leichteres Schicksal beschieden sein.«
»Vergiss Jeanne in dieser Stunde. Jetzt geht es um uns.« Adrien suchte ihren Blick. »Unser Abschied ist beschlossene Sache. Niemand kann sagen, wann wir uns wiedersehen. Ich will dich nicht gehen lassen, ohne dich noch einmal zu lieben. Es ist mir egal, wo wir sind.«
»Aber Philippe …« Séverine warf einen unschlüssigen Blick zur geschlossenen Tür.
»Denkst du, er nimmt an, dass wir bei diesem Abschied gemeinsam den Rosenkranz beten?«
Sein Lächeln gab den Ausschlag. Séverine schob alle Bedenken beiseite und kam in seine Arme. »Du hast recht. Liebe mich, damit ich in Dourdan Erinnerungen habe, von denen ich zehren kann.«
Sie umfing sein Gesicht mit den Handflächen und küsste ihn so verlangend, dass Vernunft und Besonnenheit sich in Luft auflösten. In der Stille des Gemachs, nur vom leisen Knacken der Scheite im Kamin unterbrochen, streiften sie in fiebrig aufgebrochener Hast einander Gewand, Kopfputz, Waffen und Schuhe ab.
Séverine kniete nackt auf den Kleidern, die Adrien vor dem Kamin zu Boden geworfen hatte, damit sie nicht auf bloßem Stein lagen. Das Feuer zeichnete glühend die Umrisse ihrer Gestalt nach.
»Komm zu mir.« Sie streckte die Arme feierlich nach ihm aus.
Mit einem Stöhnen kapitulierte Adrien. Séverine zu widerstehen war ihm ein Ding der Unmöglichkeit, obgleich er sich gewünscht hätte, sie wenigstens in einem Bett lieben zu dürfen. Aber es fiel leicht, alles zu vergessen, wenn sie sich ihm mit solcher Leidenschaft in die Arme warf. Fern von falscher Scham oder kalkulierter Verführung verströmte sie unverfälschte Natürlichkeit, reine Sinnlichkeit.
»Du darfst mich nicht vergessen, hörst du?«, forderte sie eindringlich, fast schon zornig. »Was auch immer die Zukunft für uns bereithält, wo immer du bist: Ich will, dass du nie vergisst, dass ich dich liebe.«
Sie umschlang ihn fordernd mit den Beinen, während ihr Schoß ihn auf der Stelle heiß und geschmeidig aufnahm. Begierig wölbte sie sich jedem seiner Stöße entgegen. Er konnte beobachten, wie ihr Blick verschwamm, wie sich ihre Zähne in die Unterlippe gruben, um einen Schrei zu ersticken. Er wollte jede ihrer Regungen in seiner Erinnerung behalten, aber er verlor sich mit ihr in einem gemeinsamen Höhepunkt von solcher Leidenschaft, dass ihm die Sinne schwanden.
»Séverine!«
Wange an Wange, das Gesicht in ihren Haaren vergraben, fand er in die Wirklichkeit zurück. Er spürte Feuchtigkeit auf der Haut. Tränen.
Ihre oder seine?
* * *
Seit Stunden trabten die Pferde am Ufer des Orge entlang. Regenfälle hatten den friedlichen Fluss in einen graubraunen Strom verwandelt, dessen ursprüngliche Ufer kaum noch auszumachen waren. Einen knappen Tagesritt vor Paris mündete er in die Seine.
Die Menschen des Hurepoix, wie die Einheimischen diese Gegend nannten, nutzten die Wasserstraße, um den Sandstein und den Mergel, den sie rund um ihre Dörfer abbauten, in die Hauptstadt zu transportieren. Die Frachtkähne und Steinflöße hatten Séverine anfangs fasziniert, nun schenkte sie ihnen keine Beachtung mehr. Zu gleichförmig war der Anblick mittlerweile geworden.
Nachdem Philippe, Séverine und Julien Saint Sulpice-de-Favières hinter sich gebracht hatten, waren sie auf ihrem Weg weder Pilgern noch anderen Reisenden begegnet. Beim Anblick des
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