Turm der Lügen
ausreichender Nahrung hatten genügt, ihre Lebenslust zu wecken.
»Ist das so? Ich bin erleichtert und danke Euch sehr für die große Fürsorge, die Ihr meinen Kindern zuteilwerden lasst«, sagte Philippe. »Ihre Mutter tat gut daran, Euch für diese Aufgabe auszuwählen. Ich sehe mit Genugtuung, dass sie eine richtige Entscheidung getroffen hat.«
»Jacquemine war mir eine gute Lehrmeisterin, Monseigneur.«
Obwohl er sie lobte, war Séverine beunruhigt. Was führte ihn heute Abend in die Kinderstube? Er kam direkt aus dem Palast auf der
Île de la Cité.
Jacquemine hatte es in einem Nebensatz erwähnt.
»Übergebt Bella ihrer Amme und begleitet mich. Ich benötige Eure Hilfe«, befahl er in diesem Moment und wandte sich wieder zum Gehen.
Als sie ihm nicht gleich folgte, sah er sich um.
»Worauf wartet Ihr?«
Séverine zögerte. Er schien den Grund zu erahnen.
»Unter meinem Schutz könnt Ihr diese Räume unbesorgt verlassen. In meiner Begleitung geschieht Euch nichts. Ich möchte lediglich, ohne jede Störung, in meinem Arbeitskabinett mit Euch sprechen.«
Séverine brachte Bella ins Nebenzimmer zur Amme und bat Jacquemine, Adrien Bescheid zu geben. »Er sollte wissen, wer mich abgeholt hat.«
»Was redest du da, Kind. Denkst du, Philippe tut dir Böses?«
Séverine antwortete nicht. Sie ging zu Philippe. Hinter ihr begann Bella zu meutern. Auch ihre Stimme wurde zunehmend kräftiger.
Ohne sich darum zu kümmern, dass Séverine Mühe hatte, seinen weit ausholenden Schritten zu folgen, schritt Philippe voraus. Das Gemach, zu dem er die Tür öffnete, wies als einzigen Luxus ein loderndes Kaminfeuer auf. Sowohl der rechteckige Tisch wie die Lehnstühle und die Truhen, die an den Wänden standen, waren schlicht und zweckmäßig. In hohen Eisenleuchtern brannte ein halbes Dutzend Kerzen. Beruhigender Lavendelduft ging von ihnen aus.
»Setzt Euch!« Philippe deutete auf einen Stuhl neben dem Kamin. Er sah an ihr vorbei ins Feuer, um sich zu sammeln. »Wie gesagt, ich brauche Eure Hilfe. Der König hat mir endlich erlaubt, Jeanne zu besuchen.«
»Gott sei Dank. Wo lebt sie? Wie geht es ihr?«, platzte Séverine, ohne jede Zurückhaltung heraus.
»Ihr wisst es noch nicht? In Dourdan. Ich nahm an, Adrien habe Euch längst Bescheid gegeben.«
»Dazu hätte er mich aufsuchen müssen. Warum hätte er das tun sollen? Welchen Grund gibt es für den Haushofmeister, in der Kinderstube zu erscheinen?«
Ihre besonnene Antwort bestärkte Philippe, ihr sein Ansinnen vorzutragen. Er drehte ihr den Rücken zu. So konnte er sich besser konzentrieren.
»Dourdan ist ein altes Besitztum des Königshauses, im Südosten von Paris. Unser Vorfahr Philippe Auguste hat es im Jahre 1220 zur Festung ausgebaut. In erster Linie besteht diese aus einem runden Wachturm, der von Wassergräben umgeben ist. Unser Vater hat Dourdan 1307 seinem Bruder Louis von Evreux für dessen Verdienste in der Schlacht von Mons en Pévelle überlassen, doch er behielt sich die herrschaftlichen Rechte des Lehens vor.«
»Und jetzt dient die Festung Jeanne zum Gefängnis. Was können wir für sie tun, Monseigneur?«
»Ihr wisst noch nicht alles.« Philippe machte eine kurze Pause. »Jeanne erwartet ein Kind. Einen Sohn vielleicht. Den Erben der Krone.«
Obwohl Séverine wusste, wie sehr Jeanne sich eine weitere Schwangerschaft gewünscht hatte, konnte sie sich nicht freuen darüber. Im Gegenteil. Eiseskälte legte sich ihr auf die Brust bei dem Gedanken, dass Jeanne in grausamer Festungshaft ein gesundes Kind gebären sollte.
»Ich habe die ausdrückliche Billigung des Königs, alles für ihre Bequemlichkeit und ihr Wohlergehen in Dourdan zu arrangieren«, erklärte ihr Philippe unterdessen. »Sie braucht auch jemanden, der täglich für sie da ist. Eine Person mit Einfühlungsvermögen, die ihre Gesundheit überwacht. Jemand, der rechtzeitig dafür sorgt, dass alles für die Geburt vorbereitet wird. Jemanden, der sie unterhält, um ihr Gemüt vor Trübsinn zu bewahren. Kurzum jemanden, der ihr einen ganzen Hofstaat ersetzt. Dass diese Person auch vertrauenswürdig sein muss und verschwiegen, brauche ich wohl nicht zusätzlich zu erwähnen.«
Je länger die Liste der Anforderungen wurde, desto weniger dachte Séverine daran, dass Philippe ausgerechnet ihr diese Aufgabe übertragen wollte.
»Sicher findet Ihr in Eurer Verwandtschaft eine Dame, die das übernehmen kann«, wich sie vorsichtig aus.
»Machen wir es kurz«, antwortete Philippe knapp.
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