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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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aufgewühlten Wassers entsann Séverine sich der Geschichte des heiligen Sulpice, dem man nachsagte, er habe ein ertrunkenes Kind wieder zum Leben erweckt. Die Kirche, die man ihm in Favières zum Dank dafür gerade errichtete, ließ schon als Baustelle ihre beeindruckende künftige Größe erahnen.
    Wie die Meilen zuvor, starrte Séverine auf Philippes Rücken. Bis zum Sonnenuntergang, so hatte er ihr versichert, würden sie Dourdan erreichen. Der zügige Ritt hatte ihr bereits die Grenzen ihrer Kräfte gezeigt, doch sie ließ sich die Erschöpfung nicht anmerken. Sie wollte nicht als schwaches Weib gelten, das die beiden Männer aufhielt.
    Seit sie Paris verlassen hatten, ritten sie, bis auf wenige Ausnahmen, ununterbrochen durch Waldgebiete. Der Forst von Rambouillet war dem Wald von Fontainebleau vorangegangen. Danach hatten sie die Mischwälder des Gâtinais durchquert, und nun befanden sie sich im königlichen Jagdrevier von Dourdan.
    Séverine rieb sich heimlich den Rücken unter dem weiten Umhang. Über ihrem Kopf krächzte ein Eichelhäher. Sie erhaschte einen Blick auf blauschwarze Flügelfedern, ehe er zwischen Tannenzweigen verschwand.
    Dasselbe Blau wie die Augen Adriens.
    Bisher war es ihr gelungen, den Trennungsschmerz in Grenzen zu halten, aber eine einzige Erinnerung ließ die Wunde aufbrechen. Sie zuckte zusammen, und ihre Bewegung übertrug sich auf das Pferd. Nervös warf es den Kopf zurück und versuchte, zu scheuen. Mit einiger Mühe hielt sie es zurück. Julien erschien besorgt an ihrer Seite.
    »Habt Ihr Schwierigkeiten mit dem Ross?«
    »Wundert dich das? Wer hat eigentlich diesen hartmäuligen Karrengaul für mich satteln lassen? Sicher nicht Adrien. Er hält Besseres von meinen Reitkünsten.«
    »Er verlangte eigens ein ausdauerndes, ruhiges und stoisches Pferd für Euch.«
    Die Betonung des Er genügte. Es bedurfte gar nicht mehr der Kopfbewegung in Philippes Richtung.
    Séverine verdrehte die Augen.
    »Ich wünschte, ich würde einmal gefragt, ehe irgendwelche Leute entscheiden, was gut für mich ist.«
    »Holla! Wo bleibt ihr?«
    Philippe zügelte am Ende des allmählich ansteigenden Weges sein Ross und sah sich nach seinen Reisegefährten um. In seiner Ungeduld, Jeanne zu erreichen, war ihm jeder Halt zuwider.
    Séverine und Julien schlossen schweigend auf. Sie hatten die Kuppe eines langgezogenen Hügelkammes erreicht. Um sie senkte sich das Gelände an allen Seiten in ein weites Tal. Der überraschende freie Ausblick auf ein unermessliches Meer von Laub- und Nadelbäumen entriss Séverine einen Ausruf des Erstaunens.
    Grauer, fahler Himmel spannte sich über Baumkronen und Spitzen. Böiger Wind trieb Wolkenfetzen, die sich von den Regenwolken gelöst hatten, über ihre Köpfe. Die tiefstehende Sonne war verdeckt und ließ lediglich die Wolkensäume wie flüssiges Blei aufleuchten.
    Erst als Séverine genauer hinsah, entdeckte sie den Ort, der mitten in diesem Ozean aus Bäumen lag. Eine viel zu kleine, urbar gemachte Insel. Wenige Steinhäuser, einige Bauernhöfe, Hütten, eine Mühle, Scheunen, Ställe und Pferche machten sich den Platz gegenseitig streitig. Alle siedelten um die Burganlage, die von einer Vielzahl runder, gedrungener Türme überragt wurde. Standarten wehten im Wind. Breite Wassergräben glitzerten um Mauern und Befestigungen.
    »Dourdan. Ich habe es mir größer vorgestellt«, sagte sie tonlos und veranlasste Philippe zu einem Kopfschütteln.
    »Wartet ab, bis wir vor seinen Mauern stehen. Kaum eine Zitadelle des Königs ist wehrhafter und besser ausgerüstet. Dourdan wirkt nur aus der Ferne verletzlich. Die Festung wurde noch nie erobert. Kommt. Es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns.«
    »Wovon leben die Menschen im Ort? Ich kann nirgendwo Felder erkennen.«
    Philippe hob erstaunt die Brauen. Dass Séverine so schnell das Problem der Siedlungsform hier erfasste, beeindruckte ihn.
    »Der Ort hängt auf Gedeih und Verderb von der Burg ab. Jedes Stück Land muss dem Wald abgerungen werden, und die Rodungen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Königs. Er schätzt sein Jagdrevier und will es nicht beeinträchtigt sehen. Hier leben Handwerker, Tagelöhner, königliche Jäger und Waldarbeiter. Sie verdienen sich ihr Brot, indem sie für die Herren der Burg tätig sind. In ihren Gärten ist nur Platz für ein wenig Gemüse, das Federvieh, ein paar Ziegen und Milchkühe. Größere Vorräte müssen sie, wie die Burgbewohner, von fremden Händlern

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