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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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    »Also sind sie aufeinander angewiesen.«
    Philippe nickte stumm und schlug auf die Hinterhand seines Pferdes, um es wieder in Gang zu setzen.
    Das Dorf, das sie wie angekündigt im letzten Tageslicht erreichten, besaß keine schützenden Mauern, sondern lediglich Palisaden, die zur Nacht geschlossen werden konnten. Die Landstraße verzweigte sich zu schlammigen Wegen. Erste Regentropfen sprangen als kleine Fontänen in den Pfützen auf. Neugierig sah Séverine sich um und fand viele Ähnlichkeiten mit dem Dorf von Faucheville.
    Auch hier wühlten Schweine vor den Häusern im Schlamm. Hühner stoben gackernd unter den Pferdehufen davon. Vor der Dorfschenke steckten ein paar Männer die Köpfe zusammen. Kinder feuerten laut kreischend zwei Buben an, die sich im Zielwerfen gegen einen Holzpfahl überboten. Es hätte eine liebliche Idylle sein können, wären nicht die beherrschenden steingrauen Mauern und Türme gewesen, die dahinter in den Himmel stiegen. Das Dorf wirkte vor diesem bedrohlichen Hintergrund winzig, geduckt, wenn nicht gar verängstigt. Selbst die eingerüstete Kirche kam Séverine grau und traurig vor.
    Zwischen zwei Rundtürmen, von schiefergedeckten Spitzdächern gekrönt und von Wehrgängen umgeben, ragte das Torhaus auf. Armdicke Eisenketten führten von der Bohlenplattform der Zugbrücke, die den Wassergraben überspannte, rechts und links oberhalb des Tores zum Räderwerk der Kettenzüge. Innerhalb weniger Augenblicke konnte die Brücke die Burg hermetisch abriegeln.
    An diesem Abend lag der Eingang offen da.
    Zu beiden Seiten des Tores, unter dem hochgezogenen Fallgatter, lehnten Bewaffnete in Kettenhemd und Helm an ihren Hellebarden. Gelangweilt betrachteten sie das Treiben auf dem Dorfplatz. Beim Anblick der drei Reiter richteten sie sich unverzüglich auf. Ihre Waffen kreuzten sich und versperrten den Weg.
    »Euer Begehr?«, rief einer von ihnen, noch ehe die Pferde vollends über die Brücke getrabt waren.
    »Ein Gespräch mit dem Hauptmann der Festung«, entgegnete Philippe.
    Er entnahm seiner Satteltasche das Pergament mit dem königlichen Siegel. Auch wenn die Männer nicht lesen konnten, der rote Wachsabdruck und die Bänder sprachen für sich.
    »Ihr findet Hauptmann Montgeron im Hauptgebäude auf der linken Seite des Hofes«, wies der Wachhabende ihnen den Weg. »Die Waffenhalle und die Quartiere der Männer sind dort. Meldet Euch in der Wachstube neben dem Eingang.«
    Séverine spähte an dem Wächter vorbei auf den Burghof. Sie blickte genau auf die Stirnseite einer Kapelle mit Satteldach und einem Glockenturm aus Holz. Drei hohe Spitzfenster verrieten deutlich, dass es sich bei Dourdan um den Besitz eines reichen und mächtigen Mannes handeln musste. Nur sehr wohlhabende Burgherren konnten es sich leisten, ihre privaten Kirchenfenster mit teurem, buntem Glas zu schmücken. Eine mächtige Linde beschattete den Ziehbrunnen vor der Kirche. Auf einer Bank, die um den Stamm herumführte, saß ein Mönch, ein aufgeschlagenes Brevier auf dem Schoß.
    Der stille Friede des Bildes stand in krassem Gegensatz zu allem, was Séverine erwartet hatte. Erst als sie das Gewölbe des Torhauses durchquert hatten, erfasste ihr Blick den gesamten, fast quadratischen Innenhof der Burg von Dourdan: Das herrschaftliche Gebäude des Palas, der neben der Kapelle die Wohnräume des Burgherrn enthielt, die Ställe zur rechten Hand, aus denen das Muhen der Kühe drang, die gemolken werden wollten, die Schmiede, das Backhaus, die einzelnen Vorratsscheunen.
    Der Bergfried schräg gegenüber war der älteste Teil der Anlage. Er unterbrach genau in der Südwestecke den starken Mauerring der Zitadelle. Von einem gut fünfundzwanzig Fuß breiten Wassergraben umgeben, konnte man ihn nur über eine Holzbrücke betreten. Im letzten Drittel ruhte sie nicht auf gemauerten Fundamenten, sondern lief in einer Zugbrücke aus. Bis auf den Eingang, die Wehrgänge mit den Pechnasen und Holzblenden und das schiefergedeckte Runddach bestand der gewaltige Turm aus grauen, rechteckig behauenen, fugenlos aneinandergefügten Steinen. Kein Fenster, kein Erker, kein Söller durchbrach die Mauer.
    Wer immer dieses besondere Bollwerk erobern wollte, musste über den Wassergraben fliegen und glatte Wände erklimmen können. Séverine ahnte, dass Jeanne in diesen Turm verbannt worden war. Wie grauenvoll mussten die Umstände für Blanche und Marguerite in Château Gaillard sein, wenn dies ein bevorzugter Ort sein

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