Turm der Lügen
»Ihr werdet das übernehmen. Bei Euch weiß ich Jeanne in kundigen Händen. Eurer Loyalität bin ich mir aus Erfahrung sicher, und Eure Verschwiegenheit habt Ihr mir auch bereits unter Beweis gestellt. Niemand darf erfahren, dass Jeanne ein Kind bekommt. Der Neid meiner Brüder, der Hass meiner Schwester und die Intrigen des Hofes zwingen uns zur absoluten Geheimhaltung dieser Schwangerschaft. Ich werde Euch nach Dourdan bringen.«
»Das geht nicht.« Séverine erhob sich so stürmisch, dass ihr Stuhl über den Steinboden scharrte. »Und Jeanne würde es auch nicht wollen. Ich bin für ihre Töchter verantwortlich. Soll ich die Mädchen etwa im Stich lassen? Das kann nicht richtig sein. Ich habe Jeanne geschworen, bei den Kindern zu bleiben, bis sie zurück ist. Mein Wort darf ich nicht brechen.«
»Jacquemine wird sich um Ersatz für Euch kümmern«, winkte Philippe ab. »Nachdem auch Bella inzwischen auf dem Weg der Besserung ist, könnt Ihr die Kinder ruhigen Gewissens ihr überlassen. Vergesst nicht: Das Kind, das Jeanne erwartet, ist auch eines ihrer Kinder. Dieses Kind braucht die ganze Aufmerksamkeit und Kraft seiner Mutter. Es hat Vorrang vor allen anderen.«
Weil es möglicherweise ein Sohn sein würde? Waren Söhne so viel mehr wert als Töchter? Waren sie nicht alle gemeinsam Kinder des Allerhöchsten?
In den Augen Gottes vielleicht, aber gewiss nicht in den Augen des Königs. Séverine konnte sich die Frage spielend selbst beantworten.
»Ihr wisst nicht, was Ihr von mir verlangt. Wenn ich diesen Schwur breche, ist mein Leben nichts mehr wert. Ich verliere meine Ehre. Meine Ehre ist alles, was ich besitze!«
Ihr Ausbruch traf Philippe unerwartet. Bislang hatte er Séverine ausschließlich zurückhaltend und leise erlebt. Plötzlich eine Frau mit flammenden Feueraugen unter dieser Maske zu entdecken, erstaunte ihn. Sie war eine Kämpferin. An wen erinnerte sie ihn? Neben der Ähnlichkeit mit Jeanne war da mehr. Tatkraft. Rückgrat und Mut. Jeanne hätte sich dieser Auseinandersetzung gewiss nicht gestellt. Höchstens ihre Mutter …
Kaum hatte er den Zusammenhang heraufbeschworen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Mahaut von Artois.
»Ihr stammt aus Mahauts Schoß. Das ist Euer Geheimnis, nicht wahr? Es ist, als hätte sie Euch bei der Geburt ein Mal auf die Stirn gedrückt.«
»Warum fragt Ihr, wenn Ihr es wisst?«
»Ihr seid also Jeannes Schwester! Ich habe es doch immer schon geahnt. Sagt, was hinter diesem Versteckspiel steckt? Sicher irgendeine Teufelei.«
»Mahauts verzweifelter Wunsch nach einem Sohn«, antwortete Séverine müde, »wurde ihr nicht erfüllt. Und da sie die Natur nicht zwingen konnte, hat sie nachgeholfen. Sie hat ihre dritte Tochter, mich, gegen den neugeborenen Sohn einer Kammerfrau eingetauscht. Der Junge starb mit wenigen Monaten. Ich wuchs in Faucheville als Tochter eines Waffenknechtes auf, der seine Trauer um den verlorenen Sohn so gänzlich im Wein ertränkte, dass er mich darüber vergessen konnte.«
So nüchtern sie die Tatsache auch schilderte, Philippe war bewegt. Er trat näher und umfasste ihre Schultern. »Faucheville. Ich verstehe. Deswegen hat sich Adrien zu Eurem Ritter ernannt, nicht wahr? Er versucht die Sünden seines Vaters zu sühnen.«
»Fragt ihn selbst. Ich kann nicht für ihn sprechen.«
»Das werde ich tun.« Philippe drückte Séverine sanft auf den Stuhl zurück. »Dass Ihr nach Dourdan müsst, ist unter diesen Umständen, wie Ihr zugeben müsst, geradezu zwingend. Dort seid Ihr auch vor neugierigen Gerüchten und vor Mahaut in Sicherheit. Ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingen wird, sie auf Abstand zu halten. Wenn das Neugeborene ein Sohn ist, wird sie sich als Großmutter des künftigen Königs von Frankreich sehen.«
»Und was geschieht, wenn Eure Frau wieder ein Mädchen zur Welt bringt? Wird man sie dann mit ihrer Tochter für immer in Dourdan einkerkern und dem Vergessen anheimgeben?«
»Was redet Ihr da, natürlich nicht.«
»Ich wünschte, ich könnte Euch glauben.«
Niedergeschlagen starrte Séverine in die Flammen.
»Lasst den Kopf nicht hängen. Wenn erst …«
Philippe drehte sich nach Adrien um, der der Einzige war, den die Leibwache vor seiner Tür ohne Anmeldung eintreten ließ.
»Adrien. Du kommst wie gerufen. Vielleicht gelingt es dir, Séverine davon zu überzeugen, dass sie mich nach Dourdan begleiten muss. Niemand kann Jeanne in den kommenden Wochen und Monaten besser beistehen.«
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