Turm der Lügen
das Gehör beschränkt.
Lediglich den sich verändernden Himmel konnte sie wahrnehmen und die scharfe Hügelkette. Den Wechsel des Wetters. Selten einmal sah sie den Rauch eines Köhlerfeuers, auffliegende Vogelschwärme, kreisende Habichte. Die endlose Fläche des königlichen Forstes zog sich bis an den Horizont. Dunkel. Bedrohlich. Undurchdringlich.
Die Außenmauern des Bergfrieds waren so gewaltig, dass sie aus der schmalen Maueröffnung nicht einmal nach unten in die Tiefe schauen konnte. Um Wind und Regen abzuhalten, konnte der Mauerdurchbruch mit einer Holzlade abgedeckt werden. Sie hatte nie Gebrauch davon gemacht, denn so sehr es auch zog, die Maueröffnung war gleichzeitig die einzige Lichtquelle der Turmkammer.
Die Ausweglosigkeit ihrer Lage setzte Jeanne zu. Nach all den ereignislosen Wochen beherrschte sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ihr Lebensmut schwand, ja sie konnte sich sogar vorstellen, dass sie ihren Tod freudig begrüßen würde.
Nur ihr Glaube sowie die Gedanken an Philippe und ihre Kinder bewahrten sie vor der Verzweiflung. Dennoch gab es Tage, an denen sie fürchtete, endgültig in Wahnsinn zu versinken.
Tage wie heute.
Eine leichte Bewegung unter der Bauchdecke riss sie unvermittelt aus ihrer Trostlosigkeit. Das erste Lebenszeichen ihres Kindes? Hatte sie es wirklich gespürt oder nur herbeigesehnt? Sie presste die Handfläche gegen die Wölbung, aber es folgte keine Wiederholung. Dennoch keimte zum ersten Male wieder Zuversicht in ihr auf. Sie war nicht allein. Philippes Sohn teilte ihre Verbannung.
Flattern und Gurren lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Fenstersims. Welch seltene Freude: Eine Ringeltaube war auf dem Absatz gelandet und plusterte das Gefieder auf. Den grauen Kopf stolz erhoben, schaute sie ihr durch den Mauerspalt entgegen.
»Ich wünschte, ich könnte fliegen wie du«, seufzte Jeanne neidvoll.
Ihre Hand sank herab. Die Kälte der Steinbank ließ sich nicht länger leugnen. Der einfache Wollstoff ihres Gewandes war zu dünn. Ihr Blick streifte die Binsenmatte am Boden, die fadenscheinige Decke auf dem Bett, den unbeheizten Kamin. Wie sollte sie sich und ihren Sohn warm halten, wenn die Tage und Nächte noch kälter wurden?
Im Sommer hatte Jeanne die dicken Mauern geschätzt, weil die Sonnenstrahlen sie nicht bis zur Unerträglichkeit aufheizten. Inzwischen war es kalt und feucht geworden. Sogar wenn sie alle Kleidungsstücke übereinander anzog, die sich in ihrer bescheidenen Truhe befanden, wurde ihr nicht mehr richtig warm.
Bisher hatte sie sich verboten, auch nur einen Gedanken an den Luxus zu verschwenden, der sie im
Hôtel d’Alençon
ganz selbstverständlich umgeben hatte. Die Kindsbewegung löste jedoch eine wahre Flut von Bildern und Erinnerungen in ihr aus.
Als sie Bella erwartete, hatte Jacquemine ihr leichte Eierspeisen, Früchte und appetitanregende Köstlichkeiten aufgetischt. Delikate Kuchen, deren Brösel sie damals den Vögeln ausgestreut hatte. Sicher hätten sie auch die Taube dort draußen verlockt. Dann wäre sie geblieben, statt die Flügel auszubreiten und sich mit einem leisen Gurren vom Wind davontragen zu lassen.
Tränen der Verlassenheit stiegen Jeanne in die Augen. Was hätte sie für ein tröstendes Wort, für die Anwesenheit einer mitfühlenden Seele gegeben?
Wie es Blanche und Marguerite wohl erging? Hatte man auch sie voneinander getrennt?
Blanche würde in solcher Einsamkeit früher oder später den Verstand verlieren. Leichtfertig und vergnügungssüchtig wie sie war, gab es nichts Schlimmeres für die Schwester als Stille und Untätigkeit. Schon ein Abend ohne Unterhaltung war eine Strafe für sie.
Und Marguerite? Sie würde sich an ihrem Stolz aufrichten, auf Rache sinnen, Ränke schmieden, auf eine Chance lauern, das Schicksal zu ihren Gunsten zu wenden. Sie würde nicht aufgeben.
Polternde Schritte durchbrachen die Stille.
Wahrscheinlich brachte Loyse die Mahlzeit heute früher. Die Magd war eine überaus mürrische Person. Ob sie wohl Zeit gefunden hatte, die Hemden zu waschen?
Es hatte wenig Sinn, sie zu drängen oder zu fragen, man erhielt nur verächtliche Gesten zur Antwort. Es hatte Jeanne Wochen gekostet, herauszufinden, dass Loyse nicht aus Ablehnung schwieg, sondern weil sie wirklich stumm war.
Da sie auch keine Ahnung hatte, wer Jeanne war, sah sie außerdem keinen Anlass, die Verbannte mit Respekt zu behandeln. Für sie war die Frau im Turm eine Verurteilte, die ihr zusätzliche Mühen
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