Turm der Lügen
gehorchte.
Der Burghauptmann machte sich an der Glut im Kamin zu schaffen, um die Scheite zum Brennen zu bringen. Séverine goss den Wein in einen Becher, den er mit dem Heizmaterial gebracht hatte. Der aromatische Duft der beigefügten Gewürze erfüllte den Raum und riss Jeanne endgültig aus ihrer Benommenheit. Was war geschehen?
Sie versuchte, Einzelheiten zu erkennen, und wischte sich die Tränen aus den Augen, damit nicht alles verschwamm. Kerzen brannten in einem zweiarmigen Eisengestell. Der Schein fiel auf Séverine, die ihr dampfenden Wein reichte. Séverine war ebenfalls hier?
»Trinkt«, vernahm sie ihre Aufforderung. »Ihr seht aus, als hättet Ihr einen kräftigenden Schluck nötig.«
Philippe musste Jeanne die Hand führen. Sie war nicht fähig, den Becher selbst zu halten. Ungewohnt feurig, brachte der Wein sie zum Husten, dennoch trank sie ein zweites Mal. Wärme stieg in ihr auf und ein Gefühl der Erleichterung, das so intensiv war, dass sie die Augen wieder schloss, um es bis ins Letzte auszukosten.
Philippe tauschte einen Blick mit Séverine. Bestürzung stand auf seinen Zügen.
»Glaubt Ihr, dass sie wieder gesund wird und zu Kräften kommt?«
Séverine antwortete resolut und selbstbewusst. »Das möchte ich doch hoffen. Ich werde auf jeden Fall alles dafür tun.«
Sie begann damit, indem sie Aufgaben verteilte. Als Erstes deutete sie auf die Fensteröffnung, vor der es mittlerweile dämmerte, und wandte sich an den Hauptmann: »Holt den Holzladen für dieses Fenster und klemmt ihn in den Rahmen, sonst wird es nie warm hier.« Ohne Pause forderte sie Philippe danach auf: »Ich habe unten, in der Wachstube, einen Küchenkorb gesehen. Seid so freundlich und bringt ihn herauf. Wir müssen alle etwas essen und trinken.«
Philippe stutzte nur kurz. Von einer Frau Befehle anzunehmen war neu für ihn. Doch als er zur Treppe ging, tat er es in dem guten Gefühl, dass er Séverine gehorchte, weil sie für Jeanne kämpfte. Er traute ihr sogar zu, diesen Kampf zu gewinnen, gegen alte und neue Feinde, gegen Krankheiten, gegen schlimme Träume.
Wie Séverine es vorausgesagt hatte, tastete sich Jeanne vorsichtig in die Wirklichkeit zurück. Philippe übte sich in Geduld.
»Hat sich mein Verstand verwirrt?«, war ihre erste Frage. »Bist du es wirklich?«
»Berühre mich – ich bin es – Philippe.«
Er ergriff eine ihrer Hände und legte sie flach auf seine Wange.
»Philippe …« Das Zucken ihrer Finger wurde zu ungeschicktem Streicheln. Leise kratzte sein nachwachsender Bart unter dieser Liebkosung. »Woher … Wieso …«
»Ich will dir alle Fragen beantworten. Später, wenn du dich erholt hast.«
Ihre neuerlichen Tränen ließen Philippe beinahe die Fassung verlieren. Nur die Gegenwart der anderen hielt ihn davon ab, mit ihr zu weinen. Er musste an sich halten, seine Gefühle zu beherrschen.
»Sie ist immer noch eiskalt!«, stellte er fest, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.
»Wir brauchen zusätzliche Decken, noch mehr Wein und einen Backstein, den wir im Feuer für Jeanne erwärmen können. Wo steckt unser Knappe? Julien muss mir helfen.« Séverine deckte den Burghauptmann mit zusätzlichen Anweisungen ein.
Montgeron machte keine Anstalten, ihr zu gehorchen. Er rieb sich verlegen im Nacken.
»Das Schreiben des Königs erlaubt ausdrücklich nur die Anwesenheit seines Sohnes und Eure. Später die der Wehmutter. Der Knappe darf keinen Schritt weiter als bis in die Wachstube.«
Die kleinliche Sturheit, mit der er auf den Einzelheiten des königlichen Befehls beharrte, entlockte Philippe einen unterdrückten Fluch.
»Tut, was sie sagt. Seht Ihr nicht, in welchem Zustand meine Frau ist? Sollten Eure Maßnahmen auch meinem Sohn geschadet haben, dann gnade Euch Gott.«
Bleich und eingeschüchtert verneigte sich der Hauptmann daraufhin und verschwand mit Séverine. Ihre Schritte und Stimmen entfernten sich. In der eintretenden Stille klang Jeannes Flüstern kratzig und rauh.
»Was bringst du? Neues Unglück? Ist etwas mit unseren Töchtern?«
»Sie senden dir ihre Küsse und ihre Liebe. Es geht ihnen gut. Allen. Auch Bella.«
Ein Teil der Last fiel von Jeanne ab. Sie erlaubte sich ein erleichtertes Aufatmen.
»Alles wird gut«, schwor Philippe leidenschaftlich. Ihre eiskalte Stirn küssend, mühte er sich, Zuversicht zu verbreiten. »Glaub mir, Jeanne.«
Da sie nicht antwortete, kam ihm Séverines Rückkehr mit einem vollen Weinkrug wie gerufen.
»Sieh, wer in meiner
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