Turm der Lügen
jeder Gedanke an Essen.
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte Séverine fröhlich.
Sie rüttelte die goldgelbe Masse geschickt vom Pfannenboden los, schleuderte sie hoch und fing sie wie ein Gaukler wieder mit der Pfanne auf.
»Schau an, ich kann es noch«, sagte sie befriedigt.
Zu ihrer eigenen Verblüffung war es Jeanne unmöglich, zu widerstehen. Der erste Bissen des flaumig köstlichen Omelettes tat ein Übriges. Er zerging auf der Zunge. Sie aß, bis sie sich schließlich satt zurücklegte. Sie fühlte sich gut. Ungewohnt wohlig. Warm. Schmerzfrei.
Nur ihr Kopf bildete eine Ausnahme. In ihm wirbelten Befürchtungen, Vermutungen, Fragen und Erinnerungen wild durcheinander. Sich diesem Wirrwarr zu stellen und es zu ordnen erforderte ihren ganzen Mut.
Inzwischen wusste sie, dass sie allein ihrer Schwangerschaft die Wendung zum Besseren verdankte.
»Hör auf zu grübeln«, störte Séverine sie in ihren Gedanken. »Lass dir lieber beim Ankleiden helfen und tu ein paar Schritte. Das ständige Liegen macht nur träge und verleitet zu trüben Gedanken. Du bist schwach, aber nicht krank. Du musst wieder zu Kräften kommen.«
Das warme Lager verlassen? Jeanne wollte nichts davon hören.
Séverine schenkte ihrem stummen Widerstreben keine Aufmerksamkeit. Sie goss Waschwasser in eine Schüssel und legte Kleidung bereit. Jeanne erkannte das dunkelblaue Hauskleid, das sie so gerne trug. Strümpfe, ein Hemd, von dem sie wusste, dass sein Seidenstoff weich auf der Haut lag. Beim Anblick dieses Reichtums trieb es ihr wieder Tränen in die Augen.
»Ich kann nichts tun, ohne zu weinen.«
Verärgert über diese Schwäche, wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen.
Séverine hielt ihr einfach die Hand hin.
»Stütz’ dich zur Vorsicht auf mich. Du hast seit Tagen das Bett nicht verlassen. Es ist leicht möglich, dass dir bei den ersten Schritten ein wenig schwindlig wird.«
»Es ist viel wahrscheinlicher, dass mir schlecht wird«, sträubte sie sich erneut. »Deinen köstlichen Eierkuchen werde ich nicht bei mir behalten können.«
»Das glaube ich nicht. Dir ist seit zwei Tagen eigentlich nicht mehr übel. Nur Mut, Schwester. Verzagtheit steht dir nicht.«
Die Leichtigkeit, mit der Séverine sie Schwester nannte, wenn sie unter sich waren, berührte Jeanne. Gleichzeitig erinnerte es sie an Marguerite und Blanche, über die Philippe bisher nicht ein einziges Mal mit ihr gesprochen hatte. Sie fragte Séverine nach ihnen.
»Philippe wird mir zürnen, wenn ich dir antworte. Er hat mir verboten, Dinge zur Sprache zu bringen, über die er selbst mit dir sprechen will.«
»Er wird dir nicht zürnen. Dazu ist er dir zu wohlgesonnen. Aber mir weicht er bewusst aus. Wo steckt er eigentlich die ganze Zeit?«
Séverine lächelte sie beruhigend an.
»Du täuschst dich. Das weißt du. Er ist ein Mann der Tat. Es liegt ihm nicht, stundenlang an deinem Lager zu sitzen und darauf zu warten, dass du aufwachst. Er begleitet den Burghauptmann mit seinen Männern bei der Jagd. Sie müssen ausreichend Wildbret für den nahenden Winter schießen. Auch wenn die Burg regelmäßig mit Getreide und anderen wichtigen Nahrungsmitteln versorgt wird – im Winter, wenn sie womöglich tagelang von der Außenwelt abgeschlossen ist, können die Vorratskammern nicht voll genug sein.«
Jeanne beharrte auf ihrem Recht, alles zu erfahren.
»Sogar die schlimmsten Nachrichten sind besser als Ungewissheit«, bekräftigte sie ihre Bitte.
Séverine ließ sich überreden. »Sie sind in Château Gaillard eingekerkert. Sie leben. Aber zu sagen, es ginge ihnen gut, wäre gelogen.«
»Danke.« Jeanne presste aufgewühlt die Handflächen gegeneinander. »Weißt du vielleicht auch, wie sie die Gefangenschaft ertragen?«
»Unterschiedlich. Marguerite hält sich an ihrem Stolz aufrecht. Blanche flüchtet sich aus der Wirklichkeit in wirre Träume. Der König versagt ihnen jede Gnade. Hinzu kommt, dass weder Louis noch Charles sich um das Wohlergehen ihrer Frauen kümmern. Allein Philippe hat es gewagt, den väterlichen Unmut für dich zu riskieren.«
»Die Gnade, die der König mir erweist, gilt auch nur dem Kind, das ich trage«, warf Jeanne bitter ein. »Marguerite hat recht, wir sind nicht mehr als Zuchtstuten für den König. Er braucht einen Enkelsohn.«
Ihre Blicke trafen sich. Jeanne rechnete es Séverine hoch an, dass sie schwieg, statt sie mit oberflächlichen Beschwichtigungen zu ermüden.
»Was immer du denkst, es ist falsch«,
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