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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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sagte Séverine nach einer Weile und umfasste ihre knochigen Schultern. »Niemand kann voraussagen, was morgen geschieht oder in ein paar Wochen. Heute dagegen wird dieses Waschwasser kalt, das ich unter Mühen für dich gewärmt habe.«
    Über so viel vernünftige Gefasstheit musste selbst Jeanne lachen. Dann hielt sie überrascht inne. Hatte sie tatsächlich eben gelacht?
    »So ist’s schon besser«, sagte Séverine befriedigt.
    Sie ließ ihr keine Zeit für überflüssige Gedanken. Mit dem Geschick einer Kammerzofe half sie ihr, sich vor dem Kaminfeuer zu waschen und anzukleiden. Danach nahm sie sich ihrer Haare an. Sie wusch den kurzen Krauskopf, spülte ihn mit Rosenwasser und massierte feinstes Mandelöl in die Haarspitzen.
    Der blumige Duft schuf eine neue, weibliche Atmosphäre in dem Raum, der in Jeannes Augen bisher nur ein schreckliches Verlies gewesen war. Ohne dass es ihr zu Bewusstsein kam, entspannte sie sich unter der Pflege. Sie genoss die Fürsorge wie ein Geschenk. Erst als Séverine einen Stoffkranz und Schleierstoff über den Locken befestigte, erwachte sie aus dem angenehmen Tagtraum.
    »Ein Kopfputz? Das ist wahrhaftig übertrieben unter diesen Umständen.«
    »Findest du? Du bist eine Prinzessin. Eine verheiratete Frau. Kein Bauernmädchen, das mit offenem Haar herumläuft. Zu diesem Kleid gehört ein Kopfschmuck. Es gibt keinen Grund, ihn nicht zu tragen.«
    Eine Modetorheit aus Venedig, die das Haar auf höchst aufsehenerregende Weise versteckte. Keine Strähne gab dieser Kopfputz frei, so dass der geschorene Kopf völlig verborgen blieb. Jeanne sah wieder aus wie Jeanne von Burgund, die vielbewunderte Gräfin von Poitiers.
    Philippe verharrte bei seiner Rückkehr im Türrahmen. Die Abendsonne im Rücken saß seine Frau auf einem Kissen in der Fensternische. Aufrecht. Elegant. Schmal.
    Jeanne betrachtete Philippe ihrerseits aufmerksam. Dass er groß und hager war, hatte ihm schon als Jüngling den Beinamen, ›der Lange‹ eingetragen. Mit jetzt zweiundzwanzig Jahren sah er älter aus, als er war. Sein helles Haar, das ihm bis zur Schulter reichte, wellte sich nach außen. Die ausgeprägte, scharfe Nase erinnerte an einen Raubvogel.
    Mit Rührung entdeckte sie die Kerbe in der Mitte des Kinns wieder, die er seiner ältesten Tochter vererbt hatte. Er trug die einfache Lederkleidung eines gemeinen Jägers, an seinem Gürtel steckte noch der Hirschfänger. Haltung und Auftreten waren ihr wohlvertraut.
    »Jeanne!« Mit wenigen Schritten eilte er an ihre Seite. »Gott hat meine Gebete erhört. Es geht dir schon wieder so gut, dass du das Bett verlassen kannst. Wie fühlst du dich?«
    »Wohl genug, um das Gespräch mit dir zu suchen«, antwortete sie bedächtig. »Sag mir, wie es weitergehen wird. Ehrlich und ohne Umschweife. All diese Veränderungen …« Eine Geste umfing das Turmgemach, das Séverine bei Philippes Ankunft verlassen hatte. »… deuten darauf hin, dass ich auch künftig hier leben werde.«
    »Lass dir erklären …«
    »Du musst mir nichts erklären«, unterbrach sie ihn. »Mir ist selbst klar, dass ich privilegiert bin. Blanche und Marguerite würden sicher gerne mit mir tauschen. Aber uns unterscheidet, dass ich, im Gegensatz zu ihnen, unschuldig bin.«
    Philippe gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verhehlen. Es gab nur eine Quelle, aus der Jeanne ihre Informationen beziehen konnte.
    »Séverine hat geredet.« Ihre Worte ließen nur diesen Schluss zu.
    »Ich habe ihr keine Wahl gelassen. Sie versteht außerdem, wie richtig es ist, die Wahrheit zu kennen. Es ist genug gelogen worden.«
    »Was man eurer Mutter auf jeden Fall vorwerfen kann.«
    »Und dein Vater hat das Urteil gesprochen, das mich nach Dourdan verbannt«, rutschte es Jeanne empört heraus.
    Sie standen kurz vor einem Streit. Jeanne hatte es befürchtet. Noch nie hatte sie ihm die Stirn geboten, für ihre Kinder wagte sie es jedoch.
    »Warum hast du Séverine nicht bei den Kindern in Paris gelassen? Es war meine ausdrückliche Bitte.«
    »Ich habe sie mitgenommen zu dir, weil sie außer Jacquemine die Einzige ist, der du vorbehaltlos vertrauen kannst. Wenn du mir vorwerfen willst, dass mir dein Wohl wichtiger ist als das unserer Töchter, so kann ich dir nicht widersprechen. Du darfst dich jedoch darauf verlassen, dass für die Mädchen auch in Séverines Abwesenheit bestens gesorgt wird.«
    »Und wenn Mahaut in Paris auftaucht?«
    »Sie ist bereits dort. Ich habe Adrien Flavy die Aufsicht über unseren

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