Turm der Lügen
sagen«, sagte Philippe. »Gut, dass du mich davon abgehalten hast, das Pergament zu verbrennen. Es ist an der Zeit, dass sie erfährt, wo man ihre älteste Tochter gefangen hält, und dass sie ein Kind geboren hat. Das Versteckspiel ist sinnlos geworden. Die alte Intrigantin kann uns hilfreich sein. Bisher ist ihr immer ein Druckmittel eingefallen.«
O Gott, Séverine!,
schoss es Adrien durch den Kopf.
Wenn Mahaut ins Spiel kommt, muss ich Séverine in Sicherheit bringen.
»Es kommt mir vor, als würden wir uns mit dem Teufel verbünden, um den Beelzebub auszutreiben«, sagte er mehr zu sich selbst.
Philippe lachte freudlos.
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Sechzehntes Kapitel
I n Jeannes Ohren gellte das Geschrei ihrer Tochter. Die Geburt eines weiteren Mädchens hatte ihr jeden Lebensmut genommen. Immer häufiger wünschte sie sich den Tod. Die Erlösung.
Der Säugling hatte Hunger. Jeanne hielt sich verzweifelt die Ohren zu. Woher nahm dieses Wesen die Kraft, so ohrenbetäubend zu schreien?
Winzig und hoffnungslos untergewichtig, hatte das Kind mit Séverines Hilfe seinen Weg ins Leben erkämpft. Von ihr wusste sie, dass die Wehmutter schon den Haken hatte zu Hilfe nehmen wollen, weil sie mit einer Totgeburt rechnete. Der schlimme Gedanke, ob es nicht besser so gewesen wäre, ließ Jeanne seitdem nicht mehr los.
Seit der Geburt war das Mädchen kaum gewachsen, nur Stimmkraft und Ausdauer nahmen täglich zu. Es lag in einem Weidenkorb auf dem Tisch, den Séverine in die Nähe des Kaminfeuers gerückt hatte, ehe sie die Kammer verlassen hatte, um die schmutzigen Windeltücher im Dorf, bei Loyse, gegen frisch gewaschene auszutauschen.
Der Korb bewegte sich im Rhythmus der fuchtelnden Kinderfäuste. Jeanne sah die rosigen Finger. Sie fühlte die leidenschaftliche Forderung nach der Mutter bis in ihre entzündeten Brustspitzen.
»So schweig doch«, flüsterte sie matt in Richtung des Tisches. »Ich kann nichts für dich tun. Du wirst ohnehin nicht überleben.«
Nicht einen solchen Winter, der das Land seit Ende November mit Schnee und Eis überzog. In den Nächten hörte man, trotz vorgelegter Läden, die hungrigen Wölfe in den Wäldern heulen.
Séverine kam mit einem Arm voller Wäsche zurück. Sie brachte einen Schwall frischer Luft in das Turmgemach. Ihr Umschlagtuch vom Kopf streifend, klemmte sie die eiskalten Hände zum Wärmen unter die Achselhöhlen und strahlte Jeanne an.
»Du ahnst nicht, wie kalt es ist. Das Wasser im Burggraben ist bereits gefroren.«
Ihr Versuch, auch Jeanne ein Lächeln zu entlocken, schlug fehl. Sie unterdrückte einen Seufzer, ging zu dem schwankenden Korb und beugte sich über das Kind. »Sei ruhig, kleine Prinzessin. Wer wird denn schon wieder weinen. Alles ist gut. Wir sind ja bei dir.«
Liebevoll nahm sie ihre kleine Nichte auf den Arm und küsste die zornig gekräuselte Stirn. Einen Moment herrschte Stille, dann setzte das Gebrüll von neuem ein. Herzzerreißend und wütend.
»Sie hat Hunger«, stellte Séverine sachlich fest.
Jeanne brach in Tränen aus und deutete auf ihr halb offenes Hemd. »Sieh doch! Hätte sie schon Zähne, ich würde bluten, so hat sie mich gequält. Aber es kommt nichts mehr, kein Tropfen. Alles ist wund. Das ist ihr Todesurteil. Ist dir das klar? Mit kaum zwei Monaten und ohne eine Amme …«
Séverine drückte das zornige Bündel beschützend an sich. »Was redest du da?«
»Die Wahrheit. Ich wusste es von Anfang an. Blanche wird sterben. Das ist die Strafe für mein Vergehen.«
Séverine stieß einen Laut aus, der dem Fauchen einer wütenden Katze glich. Sie trat an Jeannes Alkoven und drückte ihr den schreienden Säugling in den Arm.
»Du bist ihre Mutter. Du musst ihrem Leben zusprechen, nicht ihrem Tod. Tu etwas! Kämpfe für deine Tochter. Sie hat nur dich.«
Das Kind verstummte, als verstehe es jedes Wort. Die vertraute Gegenwart seiner Mutter beruhigte es auf der Stelle. Mit den Lippen schmatzend suchte es nach einer Brustwarze. Jeanne sah Séverine verzweifelt an. Sie kämpfte dagegen, Mitleid zu empfinden.
»Ich bin nicht fähig, sie am Leben zu erhalten«, flüsterte sie tonlos. »Sieh mich doch an.«
So sehr Séverine ihre Schwester liebte, in diesem Augenblick stritt sie für Blanche. Wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie Jeanne aus ihrer Verzagtheit reißen.
»Ich sehe dich an. Und ich sehe eine Frau, die Gott um einen Sohn gebeten hat und nun mit ihm hadert, weil er ihr eine Tochter geschenkt hat. Die aufgibt, ehe sie richtig gekämpft
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