Turm der Lügen
dem Rundbogen. Wie lange schon? Im Eifer ihrer Auseinandersetzung hatten sie ihre Ankunft überhört.
»Die Stunde offener Worte«, sagte sie jetzt zynisch und schloss die Tür hinter sich. »Welch günstiger Zufall, dass vor der Tür der Königin von Frankreich keine Leibwachen zu finden sind.«
Jeanne wich an die Kaminumrandung zurück.
Séverine straffte die Schultern. Wie lange hatte Mahaut sie belauscht? Egal. Nicht ein Wort würde sie zurücknehmen. Es war an der Zeit, ehrlich miteinander zu reden.
»Du glaubst also, ich hätte meine Finger beim Tod von Jean Posthumus im Spiel gehabt.« Mahaut betrachtete ihre älteste Tochter, als habe sie sie noch nie gesehen. »Du hast mein Haus nicht aus einer dummen Laune heraus verlassen, sondern weil du mich für eine Mörderin hältst. Für eine Sünderin, mit der du nicht länger unter einem Dach leben kannst.«
»Mutter«, stammelte Jeanne. »Bitte, lasst es gut sein. Verzeiht, ich habe keine Zeit für dieses Gespräch. Philippes Großkämmerer hat sich angesagt, um mit mir über die Einzelheiten der bevorstehenden Reise und der Zeremonien zu sprechen. Gehabt Euch wohl.«
Wie gewohnt ging Jeanne der Auseinandersetzung aus dem Weg. Sie verließ fluchtartig das Gemach. Ihre neuen Vorrechte als Königin verboten es ihrer Mutter, sie dabei aufzuhalten.
»Sie hatte von jeher Angst vor einem ehrlichen Zweikampf«, kommentierte Mahaut den überstürzten Abschied trocken. »Ich frage mich, ob Jeanne auf Dauer die Bürde der Krone zu tragen vermag.«
»Philippe wird sie stützen.«
»Philippe wird nicht immer an ihrer Seite sein können.«
»Ich fürchte, Euren Rat wird sie dennoch nicht suchen. Sie hegt große Vorbehalte gegen Euch, mehr noch als Philippe.«
»Du glaubst, der König traut mir?«
Welch unerwartetes Gespräch. Séverine überwand ihre Zurückhaltung und nickte.
»Ich vermute, er kann Eure Gedanken besser nachvollziehen. Nüchtern, sachlich, ist er allein am Erfolg interessiert. Er will nicht glänzen, er will die Ordnung wiederherstellen, die unter der Regierung seines Vaters das Land auch in schwierigen Zeiten zusammenhielt. Artois hat er nicht im Châtelet einkerkern lassen, um Euch einen Gefallen zu tun, sondern er will demonstrieren, dass er auf der strikten Erfüllung eines jeden Vertrages besteht.«
Mahaut nickte.
»Du bist klug, meine Tochter. Schade, dass ich ausgerechnet dich einem Ritter zur Frau geben soll, der nichts Ehrgeizigeres im Sinn hat, als seine Bauern zu schützen und seine Burg zu bevölkern. Woher nimmst du eigentlich die Sicherheit, dass ich beim Tod des Königs und seines Sohnes nicht die Finger im Spiel hatte?«
Séverine dachte lange nach, ehe sie Mahauts Blick offen begegnete. »Ich lebe, das heißt, Ihr respektiert die Unschuld eines Kindes. Was immer Ihr tut, eine Kindesmörderin seid Ihr nicht. Es geht Euch um die Macht, und dafür nehmt ihr den Kampf gegen jeden Mann auf.«
»Weißt du auch warum? Weil es für eine Frau ungeheuer schwer ist, einen Mann zu besiegen. Sogar Königinnen und Damen aus den ersten Familien müssen sich gemeinhin ihren Männern, Vätern, Brüdern oder Onkeln unterwerfen. Männer bestimmen über das Leben, die Handlungen und die Pläne einer Frau. Verweigert sie sich der männlichen Bestimmung, wird sie verbannt. Nur wenigen gelingt es, sich aufzulehnen. Frauen, die sich nicht beugen, werden verleumdet als Verräterinnen, Hexen, als Besessene oder gar als Mannweiber und Teufelsbuhlen. Sowohl von der Kirche wie vom Staat.«
»Wollt Ihr mir weismachen, an Eurem schlechten Ruf seien allein die Männer schuld? Dass Ihr Euch nie die Hände schmutzig gemacht hättet? Sagtet Ihr nicht eben, Ihr haltet mich für klug?«
Mahaut lachte lauthals. Es hallte von der geschnitzten Decke wider, was sogar Séverine zu einem widerstrebenden Lächeln bewegte.
»Sagen wir, ich habe gelernt, die Männer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen«, räumte sie ein. »Sie erwarten das nicht von Frauen. Sie sprechen uns den Intellekt ab. Deswegen war mir öfter Erfolg beschieden, als man es für möglich gehalten hat, aber dafür habe ich mir einen schlechten Ruf eingehandelt. Ich kann damit leben.«
»Bedauert Ihr, dass Ihr Adriens Vater abgewiesen habt?«
Séverine wollte die Frage eigentlich nicht stellen. Es war eher ein Versehen, doch Mahaut überraschte sie mit einer ehrlichen Antwort.
»Wenn du es genau wissen willst: Nein. Die Ehe mit Othon war alles andere als Honiglecken. Aber es ist von Vorteil, wenn
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