Turm der Lügen
der Ehemann älter ist. Witwen haben am Ende größere Freiheiten als alle anderen Frauen.«
Von Mahauts Offenheit beeindruckt, wehrte sich Séverine nicht dagegen, als die Mutter nach ihrer Hand griff und sie lange betrachtete. Sie war von der gleichen Form und Größe wie die faltige Hand mit den Altersflecken auf dem Rücken und den schweren Ringen auf den Fingern.
»Ich vermute, du wirst keine Ratschläge von mir annehmen. Du hast Adrien von Flavy ins Zentrum deiner Wünsche gestellt, nicht Macht oder Ansehen. Du wirst nach Faucheville gehen, und ich werde dich vermissen.«
Séverine war so viel Offenherzigkeit eher peinlich. Würde sie denn wirklich nach Faucheville gehen? Adrien hatte sich von ihr zurückgezogen, weil sie für Mahaut gesprochen hatte. Nach der Auseinandersetzung in der Kapelle hatte es kein vertrautes Gespräch mehr zwischen ihnen gegeben. Ihr Zorn war längst verflogen. Aber wie stand es um den seinen? Es war an ihm, den Graben zu überwinden.
»Dennoch ein Rat, meine Tochter, wenn auch ungebeten. Adrien ist so etwas wie das aufrechte Gewissen des Königs. Der Bruder, den er sich selbst ausgesucht hat. Es läge in deiner Macht, ihn zu bewegen, an der Seite des Königs zu bleiben. Ein hohes Amt und Einkünfte, die euch von allen Sorgen entheben, wären sein Lohn.«
»Und wo wäre mein Platz in diesem Szenario?«, fragte sie harsch. »Doch sicher nicht am Hof. Es muss doch in Eurem Sinne sein, dass von meiner wahren Herkunft niemand erfährt. Vielleicht wäre mein Platz dann am besten in einem dezenten Haus in einer Gasse, nahe bei
Notre-Dame,
wo die Huren wohnen? Als die heimliche Geliebte eines mächtigen Herrn? Ihr könnt mich nicht nachträglich adeln. Aber wollt Ihr wirklich eine Dirne aus mir machen?«
Mahauts Protest übergehend, sprach Séverine aufgebracht weiter: »Wenn Ihr schon einen Menschen braucht, mit dessen Schicksal Ihr Euch beschäftigen könnt, warum denkt Ihr dann zur Abwechslung nicht einmal an Blanche? Diese Tochter sitzt noch immer in Château Gaillard. Einsam und von ihrer Mutter und der Welt vergessen.«
Zum ersten Mal erlebte Séverine Mahaut sprachlos. Ihr Gesicht zerfiel in ein graues Netz aus Falten. Ihr dünner Mund bebte.
Séverine bekämpfte augenblicklich ihr schlechtes Gewissen. Dieser Schlag war nicht ehrenhaft. Sie wollte Mahaut zum Schweigen bringen, nicht grausam verletzen.
»Das war gehässig, ich bedaure meine Worte …«
»Nein!« Mahaut unterbrach sie mit einer Geste. »Denkst du, ich hätte nicht längst meine Verbindungen spielen lassen? Mein Gott, ich weiß alles über Château Gaillard. Ich weiß, dass Blanche abgemagert und wirr durch ihr Gefängnis irrt und mit den Krähen spricht, die um ihren Turm kreisen. Ich weiß aber auch, dass der Hauptmann dieser Festung sie bewacht wie sein Augenlicht. Du kannst nicht wissen, wie oft und wie vergeblich ich versucht habe, sie zu befreien oder ihr Los zu erleichtern. Nur das Wort eines Königs kann sie erlösen.«
»Philippes Wort?«
»Er wird es nie geben, wenn du es genau wissen willst. Er lastet ihr jede Träne an, die Jeanne seit Pontoise geweint hat. In seinen Augen hat sie die Freiheit nicht verdient. Zudem würde er sich ihretwegen nie mit Charles anlegen. Charles ist nicht besonders klug, aber Philippe braucht ihn. Er hat eine wichtige Stimme im Kronrat.«
Séverine verstummte.
Bedauernswerte Blanche.
Wo Mahaut keinen Ausweg sah, da gab es auch keinen.
* * *
Der Palast des Erzbischofs von Reims glich einem Bienenstock. Die Stadt der Tuchhändler, in deren gewaltiger Kathedrale seit jeher die Könige von Frankreich gekrönt und gesalbt wurden, platzte in den ersten Januartagen des Jahres 1317 aus allen Nähten. Obwohl im Winter die Handelswege kaum befahrbar waren, hatte die Nachricht von der Krönung viele Menschen nach Reims gelockt.
Der gewaltige Tross der Majestäten, der sich mit den höchsten Würdenträgern des Staates, der Kirche und den Gesandten verschiedener Länder von Paris auf den Weg nach Norden gemacht hatte, war endlich eingetroffen. Die Krönung, nicht nur Staatsakt, sondern auch Gelegenheit zum Jahrmarkt und zum Handel, würde morgen stattfinden.
Sogar im erzbischöflichen Haus herrschte unvorstellbare Enge. Adrien zwängte sich nur unter Mühen zum König durch, der nach ihm hatte rufen lassen. Philippe konferierte einmal mehr mit seinem Onkel Valois, der sich – bewegt von einer großzügigen Schenkung – endgültig auf seine Seite geschlagen
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